■ Mögliche Orte
: Vom Zufälligen

I

Samstagabend, Neukölln: fünfundzwanzig Minuten bis zum Beginn der Theatervorstellung. Genug Zeit für den Imbiß um die Ecke, ein kleiner Laden in der Hobrechtstraße, in dem ein älterer Türke bedient. Ihm geht ein junger Mann zur Hand. Unter einer Küchenuhr an der hinteren Wand des Ladens haben die Männer Kartons mit Getränken gestapelt, nach Sorten geordnet, so daß der Nachschub an Saft, Milch, Bier und den kleinen Fläschchen Schnaps gut sichtbar ist. Die Kisten geben dem Laden einen Anflug von Unfertigkeit und zugleich ein Gefühl von Vertrautheit und Fülle.

Der Fernseher läuft. Davor steht ein dicker Mann, der eine Mahlzeit eingenommen sowie ein Bier und einen Flachmann geleert hat. Als er geht, bin ich die einzige Kundin. Ich habe keinen Fernseher und freue mich auf eine Nachrichtensendung. Ein bißchen komme ich mir vor wie im Wohnzimmer meiner Großeltern und darf mir sogar den Sender wünschen. ZDF, bitte ich. Da sind die Nachrichten schon vorbei, bemerkt der Imbißbesitzer und zappt zu 3sat. Hier spricht jemand ins Mikrofon, das sieht nach Nachrichten aus. Es ist aber ein Film über den Lyriker Peter Huchel. Landschaften werden gezeigt, dann spricht Marcel Reich-Ranicki.

Gern würde ich weiter zusehen, aber der Gastgeber sucht nun die Nachrichten. Ich traue mich nicht, ihn zum Zurückschalten zu bewegen. Meinen Döner habe ich ohnehin schon fast aufgegessen. Der Imbißbesitzer steckt die Saftflasche, die ich schon geleert habe, in einen Abfalleimer neben der Tür an der hinteren Wand, öffnet die Tür, nickt mir zu und verschwindet. Der Junge putzt und ordnet hinter der Theke. Ich wische mir den Mund mit der Serviette, verabschiede mich und gehe.

II

Andere Imbißbesitzer haben es geschafft, dem Fastfood-Geruch und dem grellen Licht eine Aura zu verleihen. Da ist zum Beispiel ein Dönerstand am Rosenthaler Platz, in dessen Auslage große runde Berge von Zwiebeln, geschnittenem Kraut und Tomaten gestapelt sind: Lebensmittelskulpturen, die an Bäuche erinnern.

Der Imbiß „Lambada“ am Hackeschen Markt hingegen verkörpert Beständigkeit inmitten des Vorläufigen. Um ihn herum wird gebaut, er selbst steht in einer Baulücke; die Baulücken zwischen anderen Häusern ermöglichen, daß man den Imbiß von vielen verschiedenen Seiten erreicht. Sind Imbisse sonst eher eine Randerscheinung, bildet dieser ein Zentrum.

Huren aus der Oranienburger Straße treffen hier auf Bauarbeiter vom Hackeschen Markt. Beide gehören zum Stammpublikum und werden von denen, die sich nicht aus beruflichen Gründen in der Gegend aufhalten, bestaunt.

Neben der kleinen Bude befindet sich eine Straßenbahnhaltestelle, ein paar Schritte weiter geht es hoch zur S-Bahn, der Nachtbus ist um die Ecke. Es ist der ideale Ort zum Verschnaufen, für Leute im Transit, ein Ort der Geschäftigkeit und Ruhe. Ringsherum stehen Baugerüste, Bretterverhaue, Zäune, die auch als Nischen dienen, als Verstecke und Beobachtungsposten. Manchmal sind auch Gemüsekisten darin gestapelt. Ich habe auch schon gesehen, wie sich ein Imbißverkäufer in einen Holzverschlag zurückzog, der tagsüber als Gemüsestand dient. Er schälte Zwiebeln.

Hat man sich entschieden, nicht eilig davonzurennen, sondern in einer Nische Stellung zu beziehen und einige Minuten zu verweilen, fällt einem auf, wie die plötzliche Ruhe Triviales zum Ereignis macht und die Gewohnheiten fremder Menschen offensichtlich werden. Regelmäßig parkt jemand in der Nähe des „Lambada“ einen Wagen, dessen Fenster mit kleinen bunten Plüschtieren vollgestopft ist und der ein Nummernschild mit der Aufschrift „MAIK“ im Fenster hat.

An der rechten Ecke des Imbisses gibt es einen dieser für Berliner Freßbuden typischen runden Tische: Unter die Tischplatte ist ein doppelter Boden montiert, an den ein Müllbeutel gehängt wird. Dieser wiederum kleidet die Tonne aus, auf der der Tisch steht. Alle paar Stunden kann man beobachten, wie ein Verkäufer Tisch und Tonne trennt und mit großer Fingerfertigkeit eine neue Mülltüte an den schmalen Rand bindet, der von der Unterseite des Tisches in die Tonne hineinragt. So sind Zufälliges und Ausgeklügeltes vereint und nötigen jedes für sich Bewunderung ab. Friederike Freier