■ Der modische Angriff auf den bürokratischen Sozialstaat zerstört Solidarität und die republikanische Verfassung
: Demokraten in kurzen Hosen

Max Weber hat sich getäuscht. Seine furchtsame Frage, wie angesichts des unaufhaltsamen Vormarsches bürokratischer Mächte in Zukunft auch nur „irgendwelche Reste“ von individualistischer Bewegungsfreiheit und Demokratie gerettet werden könnten, wirkt heute seltsam antiquiert. Der Feind hat sein Quartier gewechselt und das Büro mit dem Standort vertauscht. Die Gefahren, die der Demokratie gegenwärtig drohen, kommen nicht länger aus den Amtsstuben. Sie erwachsen aus einem besinnungslosen Ökonomismus, der Staat und Politik unterwirft. Gut brechtisch kennt er von allem, was anders ist als er, von Bildung, Kultur, sozialen Rechten, nur noch eines – den Preis. Paradoxerweise ist es gerade die vielgeschmähte Bürokratie, die das Schlimmste verhindern, der Demokratie den Rücken stärken kann. Um das zu sehen, muß man mit Stereotypen brechen.

Demokratie bedeutet nicht nur republikanische Verfassungen, die Gewaltenteilung, Pressefreiheit und die persönliche Integrität jedes einzelnen dekretieren, wie uns der Liberalismus glauben machen will. Sie erschöpft sich auch nicht im freiwilligen Zusammenschluß der Menschen zu zivilen Gemeinschaften, worauf der Kommunitarismus größten Wert legt. Sie bedeutet – jenseits und unterhalb der Alternative von Gesetz und Tugend, Gesellschaft und Gemeinschaft – vor allem dies: praktische Anteilnahme am Geschick namenloser anderer. Diese Anteilnahme kann nur dort entstehen, wo alle ungefähr gleich fühlen und denken und daher ein jeder imstande und willens ist, sich in den anderen als in seinesgleichen hineinzuversetzen. Nur in einer Gesellschaft annähernd Gleicher ereignet sich regelmäßig jenes kleine Wunder, das Tocqueville vor mehr als 150 Jahren nüchtern beschrieb: „In den demokratischen Zeitaltern opfern sich die Menschen selten füreinander auf; aber sie bekunden ein allgemeines Mitgefühl für alle Angehörigen des Menschengeschlechts. Man sieht sie keine unnützen Leiden zufügen, und wenn sie, ohne sich selber viel zu schaden, die Schmerzen anderer lindern können, so tun sie es gern; sie sind nicht uneigennützig, aber sie sind mild.“

Der Neoliberalismus mit seinem seichten Freiheitsverständnis hat uns so dumm gemacht, daß wir die demokratischen Gratisgaben der Gleichheit kaum noch zu schätzen wissen. Er hat, weit schlimmer, das Bewußtsein um jene institutionellen Voraussetzungen vernebelt, auf denen die europäischen Demokratien beruhten. Es war der bürokratische Sozialstaat, der ein soziales Band knüpfte, das sich nicht auf die Familie, Freunde und Nachbarschaften beschränkte, sondern alle Bürger umfaßte. Es war der bürokratische Sozialstaat, der die Fürsorge versachlichte und anonymisierte, von persönlicher Sympathie und Antipathie entlastete und gerade dadurch ungemein beförderte. Es war der bürokratische Sozialstaat, der Gesunde gegenüber Kranken milde stimmte und desgleichen Arbeitsbesitzer gegenüber Arbeitslosen, Erwerbstätige gegenüber Senioren. Als der große Zivilisator hat er die Menschen besser und großzügiger gemacht, als sie es von sich aus gewesen wären. Er spannte die beiden großen Antipoden, Freiheit und Gleichheit, für Jahrzehnte zum Tandem zusammen.

Daß Bürokratien dazu neigen, ihre Grenzen zu überschreiten, daß sie wißbegierig und aufdringlich sind, blieb weder Ost- noch Westeuropäern verborgen. Deshalb kam vor 1989 niemand auf den irren Gedanken, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Genau dieser Irrsinn greift heute um sich. Die verführerische Droge eines unbezüglichen Individualismus, die die Neoliberalen tagtäglich verabreichen, zeigt Wirkung. Schon beginnen die Gesunden und Kräftigen mißmutig auf die Kranken und Schwachen herabzuschauen. Schon argwöhnen die Arbeitsbesitzer, daß viele Arbeitslose gar nicht arbeiten wollen. Schon neiden die Erwerbstätigen den Rentnern ihren sorgenfreien Lebensabend, den sie mitfinanzieren, ohne sich ähnliche Hoffnungen machen zu können. Schon zeichnet sich eine Mentalität ab, die ins 19. Jahrhundert zurückfällt und sozial verursachte Risiken wieder als individuelles Pech begreift, persönliches Unglück als Ausdruck moralischen Versagens, staatliche Daseinsfürsorge als ungehörige Einmischung in die Freiheit, anderen entweder aus freien Stücken zu helfen oder sie ihrem Schicksal zu überlassen.

Formell mag zunächst alles beim alten bleiben. Demokratische Verfassungen bleiben in Kraft, unabhängige Gerichte werden weiter angerufen, widerstreitende Meinungen werden zensurfrei publiziert. Tatsächlich bleibt nichts beim alten. Denn drei Pfeiler stützen die moderne Demokratie – Grundrechte, freie Gemeinschaften, unpersönliche Anteilnahme. Wenn die westlichen Demokratien fortfahren, dem schlanken Staat zu huldigen, die Gleichheit der Freiheit aufzuopfern, zerstören sie ihr eigenes Fundament. Sie unterbinden das Mitgefühl mit jedermann und folglich die Bereitschaft zu gemeinschaftlichen Unternehmungen, vor allem zu solchen, die sich über soziale, ethnische und kulturelle Grenzen hinwegsetzen. Empirische Langfristuntersuchungen aus den USA offenbaren einen auch Europa betreffenden, dabei höchst bedrohlichen Doppeltrend. Während Scheckbuchgemeinschaften wie Greenpeace oder amnesty international noch immer Mitglieder rekrutieren und Gruppen Gleich- bzw. Nächstbetroffener bestens florieren, sinkt das Engagement an sozial übergreifenden, auf das große Ganze gerichteten, explizit republikanischen Gemeinschaften. Hält diese Abwärtsentwicklung längere Zeit an, zieht sie auch die konstitutionellen Garantien der Demokratie in Mitleidenschaft. Grundrechte werden entweder nicht mehr in Anspruch genommen oder mißachtet, sofern sie andere schützen.

Die neoliberale Offensive verlangt nach einer Gegenoffensive, die sich der modischen Verteufelung des Staates ebenso entgegenstemmt wie einer falsch verstandenen Individualisierung, die Freund und Feind verwechselt und den bürokratischen Sozialstaat ausgerechnet in dem Augenblick bekämpft, in dem allein das Bündnis mit ihm Freiheit und Demokratie bewahren kann. Primitiver Antibürokratismus ist etwas für Demokraten in kurzen Hosen. Reflektierte Bürokratiekritiken à la Max Weber mögen eine Zukunft haben. Zur Zeit stiften auch sie nur Verwirrung. Die Demokratie in Europa hatte und hat vom Staat manches zu befürchten, aber weit mehr zu erhoffen. Wolfgang Engler