Intergalaktisches Glasscherbensplittern

■ Labor GRAS 888 zeigt ihre neue „Idyll“-Metamorphose auf Kampnagel

Bühnendämmerung. Nur das Quietschen der Fußsohlen auf dem weißen Gummiboden verrät die Anwesenheit der Tänzer und daß das Stück Idyll der Gruppe Labor GR AS 888 vor den noch nachtblinden Publikumsaugen begonnen hat. Eine Tänzerin rechts, rotiert in geschmeidigen Pirouetten, schlingert weich und scheint alle Möglichkeiten des Kreises zu erkunden. Ihre Kollegin in der linken Ecke seziert mit spitzen Winkeln ihren Aktionsraum, speckt ihre Bewegungen aufs pure Formskelett ab. Jedes Körperteil ein zweckhaftes Konstruktionsmodul. Dann, als wolle sich ihr Tanz nicht länger zu architektonischer Schmalheit hinhungern, surrt die Körperachse aus der strengen Statik, schwingt und schraubt sich die Figur in einen neues Stück Raum.

Die Idee zu Idyll entstand bei einem zweimonatigen Studienaufenthalt in New York und dokumentiert die Auseinandersetzung der Gruppe mit energetischen Arbeitsweisen von Releasetechniken und Contact-Improvisationen. In Kombination mit Elementen aus dem klassischen Ballett und aus Yoga-Einheiten entwickelten die beiden Tänzer und Labor GR AS Gründer Renate Graziadei und Arthur Stäldi einen eigenwilligen Bewegungsfundus. Im Sommer 1995 wurde Idyll beim 12. Internationalen Sommertheater Festival zum ersten Mal, damals allerdings als Work-in-progress-Skizze, aufgeführt. Bei dem diesjährigen Sommertheater stellte die Gruppe das Stück als neu kompilierten Aufführungsblock vor, in dem mit Susanne Braun und Sue Ying Zabala zwei zusätzliche Tänzerinnen integriert wurden, um eine Art polyphone Choreographie zu erproben. Am Donnerstag präsentierte die Gruppe nun seine jüngste Metamorphose mit nunmehr vier Tänzern auf Kampnagel. Eine kraftvoll-elegante Kontroverse kantiger und weicher minimalistischer Bewegungsexerzitien und sich beiläufig fügender Korrespondenzen. Nur einmal treibt eine der seltenen Gleichzeitigkeiten tatsächlich zwei Tänzer zum Pas de Deus einander in die Arme, läßt sie sogar Hebefiguren verrichten, wenn auch nur, um sie gleich zu travestieren. Was meist die fast schon zu dominante Renate Graziadei am eigenen Körper ungemein pointiert entwickelt und wieder auflöst, hebt ein anderer wie ein fallengelassenes Konzept auf und führt es fort.

Das wechselnde Licht aus der Spektralfarbenskala zerlegt die Bühne in verschiedene Spielorte. Auf die computergenerierten Klanggeometrien von K.-H. Schöppner, die zwischenzeitlich wie splitternes Glas, dann plötzlich wie eine intergalaktische Alarmsirene klingen können, reagieren die Tänzer mit minimalen Einzelkörperchoreographien. Sie sezieren vertraute Bewegungsabläufe und setzen sie neu zusammen. Irgendwann scheint alles, Licht, Klang, Körper, unbestimmt zu driften, scheinen die Tanzenden nichts mehr von den anderen und dem eigenen Körper zu merken. Das Woher und Wohin der Bewegungsimpulse ist nicht mehr nachvollziehbar, als folgten die Tänzer somnambul dem Magnetismus seltsamer Energiefelder. So ähnlich muß es aussehen, wenn Malewitschs suprematistischen Bildern bei ihrer Fahndung nach der x.ten Dimension und dem reinen, kosmischen Nichts plötzlich zu tanzen begännen.

Der Zyklus schließt sich, Scheinwerfer überschütten die Bühne kurz mit gleißendem Licht, bevor alle Konturen wieder in der Dämmerung verschwinden. B. Glombitza

21. und 22. Dez., 19.30 Uhr, K4