Rad fahren und Tee trinken

Einsame Skigebiete, Flüchtlingscamps und geschichtsträchtige Ruinen auf dem Weg nach Damaskus  ■ Von Patrick Buse

Nach vier Tagen Schaukeln auf Europas alten Gleisen ist der türkisch-syrische Grenzbahnhof erreicht, ein winziges Dorf vor den schneebedeckten Amanos-Bergen. Still liegen die verfallenden Gleisanlagen in der Sonne, nur gelegentlich unterbricht ein schläfriger Muezzin die Ruhe.

Bis die syrische Anschlußlokomotive nach vier bis fünf Stunden eintrifft, bleibt genug Zeit. Zeit, um mit den Kindern Fußball über die Schienen zu spielen, auf der rangierenden Lokomotive mitzufahren und mit den Zollbeamten, den Eisenbahnern und den Grenzsoldaten Tee zu trinken. An kleinen Stationen vorbeischaukelnd durch eine mediterrane, sanft modellierte Landschaft, sind es dann nur noch wenige Stunden bis Aleppo. Nach fünf Tagen Fahrt kommen wir endlich an.

Grelle Leuchtreklamen empfangen die ruhegewohnten Eisenbahnreisenden. Aus den osmanischen Bädern dringen die Dampfschwaden und vermengen sich mit den Gerüchen der Delikatessen- Bratereien. Überall Menschen, laut und wuselig. Aleppo: eine verflossene Weltstadt, in der jede Epoche ihre Spuren hinterließ. Kosmopolitisches Flair im Armenierviertel. Nächtens noch höchstlebendig. So haben wir uns die bis vor kurzem noch nominell sozialistische Arabische Republik Syrien nicht vorgestellt.

Etwa 120 Kilometer südwestlich von Aleppo gelegen, ist El Barah nur eine von Dutzenden sogenannten toten Städten. Kein Schild weist den Weg zu diesem antiken Zentrum einer intensiven, dichtbesiedelten Ölbaumkultur, kein Parkplatz, der Busse aufnehmen könnte. Statt dessen behindern allenfalls verfallene Mäuerchen das Herumstreunen durch die sechs Quadratkilometer große Stadtanlage, die im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung gegründet, im siebten Jahrhundert jedoch plötzlich verlassen wurde.

Im Westen des Orontes schließt sich das Alawitengebirge an. Abgesehen von der abwechslungsreichen Landschaft erfährt man in den vielfach christlich bewohnten Tälern auch das bunte Völkergemisch namens Syrien: Nicht nur, daß hier große Religionsgemeinschaften koexistieren, sie sind auch in sich kräftig gemischt. Die Christen mit knapp zehn Prozent teilen sich auf in Griechisch-, Armenisch- und Syrisch-Orthodoxe sowie Maroniten, Katholiken, Protestanten und andere. Die islamische Bevölkerung splittert sich auf in Sunniten und Schiiten, die wiederum als Drusen, Alawiten, Ismaeliten und zahlreiche andere mit ihren gegenseitigen Animositäten mehr als beschäftigt sind. Nie fiele es den stolzen Alawitenfrauen ein, ihr schwarzes Haar auf der Straße durch Tücher zu verdecken. Religion ist Privatsache, und jeder kocht sein eigenes Süppchen.

Angesichts dieses bunten Gemischs ist es dem Alawitensohn Assad auch nicht möglich, die religiöse Islam-Karte zu spielen. Wildmähnige Blondinen in figurbetonendem Denim-Stoff dürfen hier ebenfalls unzensiert über die TV- Bildschirme flimmern.

Sehenswert ist die Burganlage des alawitischen Städtchens Masyaf, auch wenn sie nicht an den Krak der Ritter, den Craque des Chevaliers heranreicht. Dieser ist von Masyaf aus in einem halben Tag und nach tausend Höhenmetern zu erreichen und stellt „für die Kreuzritterzeit das dar, was die Akropolis für das antike Griechenland bedeutet“. Als Zentrum der fränkischen Herrschaft hat der Krak mit seinen zahlreichen Befestigungsringen und Wohnanlagen für bis zu zweitausend Mann Besatzung riesenhafte Ausmaße.

„Bienvenue au Liban!“ Mit diesen Worten des Zöllners im Ohr surren die Räder ihrem nächsten Ziel entgegen, Tripoli, der zweitgrößten Stadt des Libanon. Karossen mit Stern überholen en gros, signalisierend: Hier herrscht Wohlstand. Doch der zweite Eindruck könnte gegensätzlicher kaum sein: Kilometerlange palästinensische Flüchtlingslager säumen die Straße. Eine Million Binnenflüchtlinge und 400.000 weitere aus Israel leben zum Teil unter ärmlichsten Bedingungen, von den ansässigen Libanesen widerwillig geduldet. Tierkadaver vermodern am Straßenrand, Müllkippen auf dem Strand, an der Straße und in den Städten prägen das Land.

48 Stunden später: In der Ferne glitzert das Mittelmeer, unter uns der Neuschnee. Die Aussicht ist phantastisch. Hier, in knapp dreitausend Meter Höhe, breiten die letzten verbliebenen Zedern des Libanon – man sagt, sie seien schon über zweitausend Jahre alt – ihre weitausladenden Zweige aus. Der Krisenherd Beirut ist weit weg. Noch sind die Skilifte nicht von den landesweiten Stromausfällen betroffen. Nur mit dem Après-Ski sieht es in dem kleinen Dörfchen Bcharré, einst Inbegriff des noblen Schneesports mit Mittelmeerblick, etwas dürftig aus: Pizza gibt es bis neun, dann senkt sich die Nacht über den Ort mit seiner seltsamen Mischung aus alpinem Skizirkus und arabischem Flair. Erst allmählich erwacht ein bescheidener Binnentourismus. Einmal öffnet uns, beim Anblick unseres Fortbewegungsmittels, ein Hotelier sein Haus, in dem seit fünfzehn Jahren keine Gäste mehr genächtigt hatten. Unruhig flackern die Kerzen auf dem staubigen Nachttisch.

Anstrengender als die Skifahrerei ist allerdings der Anstieg per Fahrrad. Bis zur Lift-Talstation geht es auf etwa 2.400 Meter. Start in Tripoli auf Meereshöhe. Hier empfiehlt sich eine gute Gangschaltung, um die grandiosen Aussichten auf wilde Schluchten, eng an Bergrücken gekauerte Klöster und Apfelbäume in voller Blüte genießen zu können. Der Anstieg, langsam kurbelnd, durchquert Gegenden, durch die die Panzer immer nur hindurchfuhren. Kein einziger der Ferienorte mit ihren protzigen Chalets weist die Brandwunden auf, die die Küstensiedlungen kennzeichnen.

Aus der Ruhe ins Chaos: Auf dem letzten Stück nach Beirut ist der Küstensaum stellenweise so schmal, daß nur noch die Autobahn daraufpaßt. Lkws und Busse donnern vorbei. Durch wohlstandsgeprägte Vororte mit ehemals eleganten Hochhäusern, Nachtclubs und Kasinos nähern wir uns dem Ziel der Reise, das allenfalls mit vagen Assoziationen vergangener Glanzzeiten besetzt ist. Der erste Anblick ist eindrucksvoll: Ein letzter Felsvorsprung gibt den Blick frei auf eine Landzunge, die sich herausfordernd ins Mittelmeer schiebt. Hochhäuser erstrecken sich bis auf die höchsten Hänge des Küstengebirges. Ein triumphales Einlaufen, glücklich und verschwitzt, wird erst einmal zunichte gemacht durch eine gebrochene Felge, zehn Kilometer vom Ziel entfernt. Immerhin eine Gelegenheit, die letzte deutsche Tafel Schokolade auf der Leitplanke zu verzehren.

Mit notdürftig repariertem Hinterrad gelangen wir über staubige Straßen an der zerstörten Innenstadt vorbei zu unserer Unterkunft: Die „Pension Home Valery“ ist einfach zu finden, da direkt gegenüber dem schwarzen Skelett des Holiday-Inn-Turms gelegen, und bietet demjenigen, der es schätzt, für moderate fünf Dollar authentisches Civil-war-Flair.

Am Abend bleiben Kinos und Theater aus Furcht vor Angriffen geschlossen. Die Stadt ist dunkel, keine Straßenbeleuchtung, kaum Reklame, die Fenster meist schwarz, lediglich der kreisende Scheinwerfer des Leuchtturms taucht die Stadt periodisch in gespenstisch-gleißendes Licht. Geräusche bleiben merkwürdig gedämpft und heben das Wummern der Notstromaggregate um so mehr hervor. Allenfalls die Ausstellungseröffnung im Goethe-Institut verspricht an diesem Abend etwas Abwechslung. Dort werden wir vom Kulturattaché der Botschaft empfangen: „Haben wir Sie nicht heute mittag auf der Schnellstraße überholt?“

Erst am Tage erwacht der kosmopolitische Überlebenswille wieder: Auf zur Corniche! An der kilometerlangen Uferpromenade, die sich die gesamte Halbinsel entlang erstreckt, läßt sich bewundern, was reich und schön, elegant oder auch weniger elegant ist. Nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt herrscht staubige Stille.

Mit einer Sondererlaubnis der Solidère, der Aktiengesellschaft für den Wiederaufbau Beiruts, kann man das Parlamentsviertel, das historische Stadtzentrum besuchen. Vögel haben sich in den sandgelben Ruinen eingenistet. Staub weht durch die Straßen, von gelegentlichen Windböen aufgewirbelt. Ausgebrannte Kirchen stehen ausgebrannten Moscheen gegenüber.

Die letzten Tage im Orient. Mit einem schaukelnden amerikanischen Straßenkreuzerschiff als Taxi, die Räder sicher auf dem Dach verstaut, gelangt man in nicht einmal drei Stunden nach Damaskus. Reisende aus aller Herren Länder besangen die Schönheit dieser Stadt, die von sich behauptet, eine der ältesten zu sein.

Morgen werden wir schon über den Wolken Deutschland entgegenrasen. Sehr schnell, sehr funktionell, sehr abrupt. Den Tee gibt es aus dem Plastikbecher.