Zu schwer füreinander

■ Ödön von Horvaths "Kasimir und Karoline" am Hamburger Schauspielhaus

Wir werden bald alle fliegen“ – diese Hoffnung Karolines steht am Anfang eines langen Abends mit Horváth. Doch Kasimir und sie stehen auf der Bühne wie angewurzelt, und zwischen Damen- und Herrenklo rechts und links hat die Bühnenbildnerin Anna Viebrock einen runden, eichengetäfelten Kiosk gebaut, in den die Oktoberfestbesucher durch Schlitze hineinschauen wie in eine Peep-Show. Zeppelin und Achterbahn und alle anderen Rummelplatzsensationen sind nur mehr Mitteilungen stillstehender, starrender Menschen. „Vielleicht sind wir zu schwer füreinander“ – dieser zweite wichtige Satz Karolines eröffnet Christoph Marthalers Reigen der zahllosen Arten, nicht fliegen zu können. Sepp Bierbichler spielt den Kasimir als schweren Klotz mit eingezogenem Kopf. Karolines Satz verfolgt ihn, und nur seine großen, zuckenden Hände zeigen, wie sehr er in sich selbst eingesperrt ist. Im trostlosen Licht einer Wartehalle enden alle Ausbrüche im Taumel oder im Sturz, und Marthaler gelingt es, die Geschichte vom arbeitslosen Chauffeur Kasimir und seiner Karoline, die mit Hilfe des Zuschneiders Schürzinger und später zweier älterer, betuchter Herren „höher hinauf“ möchte, ganz neu zu erzählen, als Ritual über die Erstarrung und Hilflosigkeit der Menschen. Die Kontrahenten gruppieren sich: Karoline mit den drei Herren, Kasimir und sein boshafter Kumpan Franz. Bis das gelingt, scheinen die einzelnen falsch gepolte Magnetfelder um sich zu haben, die darauf angelegt sind, Annäherung zu verhindern.

Volkstümlichkeit, das machen die virtuosen kleinen Aktionen der Schauspieler deutlich, ist das Gegenteil von Nähe. Karolines Kavalier Schürzinger (André Jung) wirft seine antialkoholischen Prinzipien über Bord und trinkt sein erstes Glas, und Loriot und Chaplin lassen grüßen; Franz (Ueli Jäggi), der Schinder, ist ein schmales Ekel, das immer wieder in Ernas Handtasche spuckt, und immer wieder demonstriert sie weibliche Langmut.

Marthaler bindet die Aktionen der Rummelplatz- und Kneipenbesucher in die Darbietungen eines Blasorchesters ein, das mit den Liedern von der nicht aussterbenden Gemütlichkeit und den trinkenden Brüderlein die Grenzen allen Erlebens deutlich macht. Doch bevor der runde Guckloch-Pavillon einer Bierschwemme weicht, öffnet er sich, und ein Riese, ein Zwerg und das Gorillamädchen mit Bart, alle zusammen lauschen dem Zeppelin. Für einen magischen Moment verschmilzt die Welt der Außenseiter und Freaks mit der der Besucher und Voyeure, und der Regisseur läßt all ihre Absonderlichkeiten in Sehnsucht aufgehen.

Im zweiten Teil dann, in dem Kasimir und Karoline getrennt voneinander Erfahrungen machen, geht die Spannung dieser Versuchsanordnung verloren. Die beiden älteren Herren inszenieren Eifersuchtsdramen um Karoline, Kasimir erbt Erna, weil Franz' letzte Missetat mißlingt, doch die Zeitökonomie, von der Marthalers Inszenierungen ebenso leben wie von den wunderbar stilisierten Kabinettstückchen seiner Schauspieler, geht nicht mehr auf. Das Publikum gerät mitunter in die Rolle des Kindes, dessen Zimmer mit so viel Spielzeug angefüllt ist, daß es nurmehr überfüttert reagiert. Das ist schade, denn am Ende, wenn Kasimir und Karoline feststellen, daß das Ende der Liebe ebenso zwangsläufig wie zufällig ist, ist alle Intensität des Anfangs wieder da, und der Akkordeonspieler, dessen laute und leise Begleitung den Abend poetisch unterfüttert hat, spielt zum letzten Mal das Lied vom alleinig einzigen Mai, der den Menschen vergönnt ist. Trotz dieser Längen beleuchtet Christoph Marthalers Inszenierung Horváths Sicht der Welt auf zarte und einleuchtende Weise: Alles ist Ersatz, und dennoch sind seine Figuren zerbrechlich menschlich.

Mit Sorgfalt gestaltet der Regisseur ihnen den je eigenen Raum, den Abstand, den sie brauchen, die Nähe, die sie nicht ertragen, und gerade dadurch rücken ihre Banalitäten und Klischees uns so nah. Harmlos aber sind sie nicht: Zwar beschränken sich die Wutausbrüche auf das Zertrümmern von Möbeln und den wiederholten Gebrauch der Hau-den-Lukas-Maschine, doch Marthaler läßt keinen Zweifel daran, daß jede Annäherung von Männern und Frauen prekär ist.

Wenn die Grenzen überschritten sind, die Nähe zu groß ist, wird die Gewalt in der Anspannung der Körper erkennbar, hilflos fuchtelnd bei den Frauen, erstarrend bei den Männern, und Kasimirs Erkenntnis, alle Weiber seien „minderwertige Komplexe“, verlagert die Komik auf die Ebene der Sprachunfähigkeit. Doch die andere, todtraurige Geschichte gerät keinen Augenblick lang in Vergessenheit: Keiner wird fliegen, alle sind zu schwer, aber die Sehnsucht wird sie weiter quälen. Lore Kleinert