Der Verkündiger vom Engelberg

Stephan Eicher ist der erste Superstar aus der Schweiz. Sein Album „1000 Vies“ überrascht mit besonders hohem Messiasfaktor  ■ Von Thomas Groß

Engelberg“ und „Eicher“ sind nicht unbedingt Silbenfolgen, die Franzosen gut über die Lippen gehen – bekanntlich haben sie schon Schwierigkeiten mit dem Prononcieren von Bob Dylan. Das hat sie aber nicht daran gehindert, Stephan Eicher, „le petit Suisse“, „l'Helvete Underground“, 1992 gleich viermal im ausverkauften Pariser Olympia zu feiern. Und wie! Besonders bei der Songzeile „Me feras-tu un bébé pour Noäl?“ (Machst du mir zu Weihnachten ein Kind?) soll es Augenzeugenberichten zufolge zu tumultartigen Szenen gekommen sein.

Seit er daraufhin von Kulturminister Jack Lang zum Chevalier des beaux arts et des lettres geschlagen wurde und der Schriftsteller Philippe Djian („Betty Blue“) fest für ihn textet, gehört Stephan Eicher einer seltenen Art an: Er ist ein Superstar aus der Schweiz. Und darf als solcher praktisch alles: Franzosen schweizerdeutsch kommen, Schweizern international (mit großer Produktion und englischen Texten). Er rockt Springsteens „Born in The USA“ in „Born on the Limmatquai“ um. Auch findet er nichts dabei, Engelberger „Chälläwäigger“ (spezielle Kuhhirten) auf der Bühne durch gelben Trockeneisnebel zu schicken. Zur 200-Jahr-Feier der Mont- Blanc-Bezwingung stand er gar in der dünnen Luft des Gipfels im ewigen Eis und sang einen „Song für Europa“. Und warum? Wozu? War's da nicht bitterkalt?

„Die Einsamkeit des Bergsteigers fasziniert mich“, gab Eicher zu Protokoll. „Sie ist vergleichbar mit meiner Situation, wenn ich allein auf der Bühne stehe.“

Und das Wort war bei Stephan

Wenn dereinst die Biographen antreten, das Leben des Stephan Eicher niederzuschreiben, wird dieser seltsame Heilige ihnen mit solchen Statements bereits tüchtig entgegengearbeitet haben. Nicht nur die Eindrücke seiner zahllosen Reisen versteht der Berner in wohlgesetzten, durchaus sinnierenden Passagen zu Papier zu bringen, auch dem Werk selbst wächst schon zu Lebzeiten ein beachtlicher Fußnotenapparat zu. Wer etwa die gerade erschienene CD „1000 Vies“ zur Hand nimmt, wird mit dem Ernst, der zeitüberdauernder Größe gebührt, in jede Schicht des kreativen Prozesses eingeweiht. Er erfährt, daß am Anfang das Wort war und das Wort bei Stephan in seinem Heimstudio in Lugano.

Daß am dritten Tage weitere Stimmen hinzukamen im Hotel „La Colombe“ in Saint Paul de Vence. Ein Trip nach Paris bescherte Streicher und Trommeln, bevor Stephan „for more programming and recording“ nach Lugano zurückkehrte. Jetzt erst war es an der Zeit, Bänder an Freunde in aller Welt zu schicken, die bereitwillig ihre Klangfarben zur Verfügung stellten, bevor in einem Zermatter Studio in klösterlicher Abgeschiedenheit weiterkreiert wurde. Ismael Lo eilte freudig aus Dakar herbei, um mit Monsieur Stephan das Stück „Rand der Welt“ zu singen. Schließlich noch einmal Saint Paul de Vence, bevor abschließendes Mastering in – na? na? – New York, versteht sich, vorgenommen wurde. Soll keiner sagen, hier handele es sich um ein provinzielles Produkt!

Aber auf solch abwegige Gedanken wäre ohnehin nicht gekommen, wer den Werdegang des Stephan Eicher vom punknahen Independent-Artisten zum Verkündiger vom Engelberg verfolgt hat. Zu New-Wave-Zeiten hatte er seinen ersten Hit mit der Band Grauzone und dem berühmten „Eisbär“-Song. Danach Versuche mit einer Straßenband namens „Die Reisenden“ und als Solokünstler. Platten hießen „I Tell This Night“, „Les chansons bleues“ oder „Silence“, bis 1991 in einem zum Studio umfunktionierten Kurhotel „Engelberg“ entstand.

Daß Eicher das Album seines Durchbruchs nach dem Ort nannte, in dem es aufgenommen wurde, zeugt von einer kunstvoll inszenierten Magie des Lokalkolorits, die von vornherein auf Exportfähigkeit spekulierte. Seither hat der Reisende durch Raum und Zeit es verstanden, diesen Vorsprung durch Savoir-vivre und kluge Imagepolitik auszubauen: Eicher, der Polyglotte mit Wurzeln (er ist jenischer Herkunft, ein Schweizer „Zigeuner“), am ideellen Schnittpunkt diverser Kulturkreuzwege angesiedelt. Eicher, der Weltbetourer, der bei seinen kalkuliert seltenen einheimischen Konzerten ganze Ensembles aus Afrika und Asien aufspielen läßt – aber selbstlos! Ein Kurier ohne Nutznießer- Attitüde, mehr laissez faire, mehr Gauloises blondes als Marlboro. Von Paul Simon die Botschaft, dann aber den besseren Friseur kennen!

Oder den besseren Imageberater. Der Mann, der all dies möglich machte, heißt Martin Hess. Was für Elvis Colonel Tom Parker war, ist er für Eicher: Streng überwacht er den Output an Fotos, Statements und Interviews, verknappt hier und erweitert dort – für 50 Prozent Gewinnbeteiligung. „Stephan spielt die Musik, ich spiele die Medien“, sieht's Impresario Hess ganz offen und auch, frei nach McLuhan: „Die Kontrolle des eigenen Bildes – das ist understanding media.“

Spinnend die Welt retten

Namen auf dem Titel sind bei diesem Stand der Produkteinführung nicht mehr nötig, das Gesicht selbst ist die Marke. Für „1000 Vies“ schaut Eicher (fotografiert von Irving Penn) dem Käufer frontal ins Auge. Einen Bart hat er sich stehen lassen zum kajalumrandeten Blick, was den Messiasfaktor noch einmal enorm steigert. „Nur ein Spinner kann diese Welt noch retten“, ließ Eicher den Schweizer Sonntagsblick schon vor Jahren wissen, jetzt ist daraus eine jesusmäßig ausgewachsene Angelegenheit geworden, eine Kunstfigur mit Echtheitssiegel, die Tiefes, allzu Tiefes aus dem Quell innerer Poesie zutage fördert. Unsichtbar sei er gelegentlich, „like a blackbird's shadow“, läßt er die Gemeinde im Titel „Bones“ wissen, und „my face is yours reflected in you rippled shallow waters“. O Schaum der Tage, o lustiges Englisch! Kinder, Besoffene und Eichers sagen die Wahrheit.

Besoffen von sich und seinem Spiegelbild muß allerdings sein, wer Quintanerpoesie mit derartigem Aufwand zum Esperanto der Gefühligkeit emporarrangiert. Es perlt, es zupft, es zirpt, refraint, oboet, trompetet und synthesizert auf allen Kanälen, schätzungsweise 64 an der Zahl. Paßgenau fügen die Einzelteile sich ineinander, viel konsequenter, als das bei jedem Eicher-Werk bislang der Fall war. Deep, deep, der Baß in „Forever“, gut durchgebraten die Gitarre in „Elle mal étraint“. Die kleine Kaffeehauspoesie vom Zürcher Limmatquai hebt ab und läßt sich breitarschig wie ein Raumschiff auf der Speisekarte eines besseren Flughafenhotels nieder. Man kennt den Gast nicht mehr so genau – aber das auf internationalem Niveau!

Wie der gemeine Superstar à la Michael Jackson ist Eicher ein Einiger seines Reichs, der dafür wohlkalkulierte Kompromisse schließt: Er will die Traditionalisten bei der Stange halten, aber auch die Fanbasis verbreitern. Afrika reinholen, es aber bei allem Goodwill strikt unter dem Eicher- Logo laufen lassen. „Weltmusik“ machen, aber bodenstämmig bleiben. Das alles bei sehr allmählicher Erhitzung der Zutaten. „Meine Karriere läuft seit 1985, ein Fußgängermarsch. Den Durchbruch muß man sich vorstellen wie einen Faltenwurf bei den Alpen“, sagte er unlängst in einem Interview – is cool, man! Nur das ganz große Bild taugt noch zur Illu eines Werdegangs, den man auch so lesen kann: Eicher übersetzt die tribalen Wurzeln der Schweiz unter Beimengung größerer Gaben Chansonmasse in ein alpenähnliches Gebilde postmodern bewegter Starre. Baudelaire und DJ Bobo zusammenkriegen – das wäre der Anspruch. Und man kann nicht mal sagen, Eicher wäre daran gescheitert. Das rappelt schon alles ganz sehnsüchtig vor sich hin, und in der Nacht des Radios sind ohnehin alle Katzen blau.

Vorreiter der globalen Ökumene

„Vielleicht haben die Götter den Schmerz ja nur geschickt, damit ich Arbeit habe“, hat Stephan neulich mal wieder laut nachgedacht. Tja, vielleicht. Müßte man sich mal einen Kopf drüber machen. Vielleicht haben die Götter aber auch den heiligen Stephan als warnendes Beispiel geschickt, wie's rumgehen kann, wenn man selber zu sehr glaubt, was da zunehmend am Reißbrett entworfen wurde: die Geschichte vom kleinen S., der in die Gewichtsklasse der Genies aufstieg, Berufung: Olympier, Rezeptionshaltung: Andacht. Denn „die Wahrheit ist gefräßig, die Wahrheit ist ein Tier“ („In Wolken“). Und die Wahrheit ist: Stephan Eicher macht Musik, die beim Duschen, Abwaschen und Pizzabacken gute Dienste leisten kann.

Also, Biographen der Zukunft! Preist unsern Eicher als weiteren Vorreiter einer globalen Ökumene. Singt das Lied von der Schweizer Wertarbeit, die über sich selbst hinauswollte. Behaltet die „Filles du Limmatquai“ als Lied für gewisse Stunden in bester Erinnerung. Gönnt dem Manne auch seine tragischen Züge als Fool on the hill und Gefangener seiner eigenen Vision. Aber laßt um Gottes Willen die Luft aus ihm raus.

Stephan Eicher: „1000 Vies“ (Electric Unicorn Music)