■ Der „Fall Lengsfeld“: Haben uns die ehemaligen Bürgerrechtler noch etwas Wichtiges mitzuteilen?
: Der verlorene Ort

Eigentlich geht es um den Gebrauch eines Adjektivs. Soll man „ehemalige Bürgerrechtler aus der DDR“ schreiben, oder soll man es einfach bei den „Bürgerrechtlern“ belassen? Gibt es noch etwas, was die mutige Schar von 1989 zusammenhält, haben sie eine gemeinsame Mission im nunmehr größeren Deutschland?

Es war Václav Havel, der vor einigen Wochen anläßlich einer von ihm und Roman Herzog gemeinschaftlich ausgesprochenen Einladung an „ehemalige“ tschechische und ostdeutsche Dissidenten diese Frage aufwarf. Für die Fragestellung war der Rahmen der Einladung, das Schloß Bellevue, seltsam und vielleicht symptomatisch. Eine gesellschaftliche Debatte, veranstaltet von zwei Staatspräsidenten?

Václav Havel hatte eine klare Antwort parat: Unabhängig von ihrem gegenwärtigen politischen Standort sollen sich die ehemals demokratischen Oppositionellen in Osteuropa einsetzen für die universelle Geltung der Menschenrechte. Darin liegt ihre unverlierbare Kompetenz, die sie sich einstmals erwarben, als sie aus der Schiene sprangen.

Gegen diese Kompetenzzuteilung lassen sich viele Argumente auffahren, grundsätzliche und pragmatische. Schon damals gab es gänzlich unterschiedliche Motive für den Widerstand, aber ein klar umrissenes Feindbild: den real existierenden Sozialismus. Als der sich aus der Geschichte verabschiedete, war der Bruch mit einer klar vorgezeichneten Existenz im Widerstand unvermeidbar. Es galt, sich einer neuen Wirklichkeit auszusetzen mit ihrer verwirrenden Vielfalt möglicher Lebensstile. Es galt, sich auszuprobieren, sich einzufädeln. Warum sollte es den Revolutionären von 1989 anders ergehen als den Millionen, die in den vorangegangenen Jahrzehnten ihren Wohnsitz ins andere Deutschland verlegt hatten, um auf- bzw. unterzugehen in der Absorptionsmaschine BRD?

Bestand nicht nach 1989 und besteht heute nicht die Gefahr, daß, wer sich an den alten Konfrontationslinien festklammert, zur Sterilität verurteilt ist, Wachheit und Neugierde einbüßt? Es wäre ein leichtes, diese Gefahr am Beispiel des Verhältnisses einer Reihe „ehemaliger“ Bürgerrechtler zur PDS zu illustrieren. Man braucht nur die zahlreichen Indizien, die den undemokratischen Charakter dieser Partei auch heute belegen, zusammenzuziehen, um zu dem naheliegenden, aber gleichwohl falschen Gleichheitszeichen, PDS = SED zu gelangen. Und schon schnappt die Falle zu. Die Rollenzuweisung steht bereit, das Kostüm ist schon geschneidert: das des prinzipienfesten Mahners. Von der Linken verunglimpft und stigmatisiert, von der Rechten nach Bedarf taktisch eingesetzt. Das hat Frau Lengsfeld übersehen.

Aber stimmt es tatsächlich, daß den ehemaligen Bürgerrechtlern keine wirkliche Wahl bleibt? Eine kurze Inspektion politischer Existenzen auf der Bonner Bühne führt zu eher deprimierenden Ergebnissen. Wolfgang Thierse wird ab und zu vom Schnürboden heruntergelassen und, wenn er etwas Bedenkenswertes zu sagen hat, prompt von seinen eigenen Leuten dementiert. Das Team um Gert Poppe, das aus menschenrechtlichem Engagement für eine militärische Intervention in Bosnien- Herzegowina eintrat, wurde bei den Bündnisgrünen entgegengesetzten Beteuerungen zum Trotz marginalisiert. Und ist es nur eine Laune der Geschäftsverteilung, daß bei der CDU Eppelmann DDR-Vergangenheit bewältigen darf?

Das hängt, so könnte man antworten, mit der geringen politischen Substanz dessen zusammen, wofür die Bürgerrechtler einst standen, mit ihren Dritte-Weg- Phantasmen, ihrem Unverständnis der nationalen Frage, ihrem Abscheu vor den DDR-Normalbürgern, kurz mit dem, was sie mit den westdeutschen Linken verband. Aber eine solche Sicht der Dinge ließe das wichtigste Gemeinsame der Bürgerrechtler in der DDR außer acht: ihren emphatischen Begriff der Demokratie, durch den sie sich grundlegend von ihren „natürlichen“ Bündnispartnern im Westen unterschieden.

Den Bürgerbewegern von 89 ist es nie eingefallen, sich gramzerfurcht zu fragen, was eigentlich die Deutschen im Innersten zusammenhält. Sie antworteten damals und antworten heute unisono, es ist der selbstbewußte, demokratische Bürgergeist, und es sind die demokratischen Institutionen, die es gilt, diesem Geist zu öffnen. Im Westen wurde ein Weilchen lang mit der „Bürgergesellschaft“ gespielt, quasi als Ersatz für die abhanden gekommene sozialistische Wunschlandschaft. Im Osten wurde sie in der Opposition gelebt. Sie ist das „nationale Erbe“, um einen Lieblingsbegriff der SED zu mißbrauchen.

Kürzlich ist anläßlich einer internationalen Konferenz ehemals demokratischer Oppositioneller in Polen der Beschluß gefaßt worden, Material über die Geschichte dieser Bewegungen und ihrer Vernetzung zu sammeln und so dem Gedächtnis der Gesellschaften zugänglich zu machen. Auf Deutschland bezogen wäre das ein nützliches Unterfangen, denn nichts kennzeichnet die Geschichte demokratischer und emanzipatorischer Bewegungen hierzulande mehr als Diskontinuität und Erfahrungsverlust. Aber das Ganze ist ein Minimalprogramm, bestenfalls wird damit pädagogische Aufklärungsarbeit ins Werk gesetzt, schlimmstenfalls degeneriert das Unternehmen zu einem Museum guter Absichten, wo widerstrebende Schulklassen von einem eifernden Personal herumgeführt werden.

Nein, noch ist mehr drin. Das Lieblingsprojekt der DDR-Oppositionellen, die „demokratische Bürgergesellschaft“, sie ist noch nicht abgegolten. Wie sehr dies zutrifft, zeigte sich 1992, „nach Rostock und Mölln“, als erstmals seit der Friedensbewegung eine Debatte über Zivilcourage in den Tiefenschichten der Gesellschaft einsetzte. Wie sehr fehlte damals das Gewicht der Erfahrungen, das östliche Bürgerbewegte hätten einbringen können und müssen. Wie sehr fehlt es heute, wo, von Daniel Goldhagens Buch angestoßen, sich eine neue Generation mit der Frage quält, ob sie sich anders und besser verhalten hätte als die Generation ihrer Großeltern.

Es wäre vergebliche Liebesmüh, die ehemaligen Aktivisten der Charta 77 oder der Solidarność zu einer gemeinsamen Versammlung einzuladen, auf der eine Bilanz einstiger Wünsche gezogen würde. Die Gräben sind mittlerweile unüberbrückbar. So weit ist es noch nicht im Osten. Wie wär's mit einer Einladung ohne jede Ausgrenzung, ohne Tagesordnung und möglichst nicht im Schloß Bellevue? Christian Semler