Bigott im Federkleid der Bibelseiten

■ Thalia: Jürgen Flimm inszeniert Molières „Tartuffe“ als theatralischen Glücksfall

Wenn die Vernunft auf der Seite der Gecken ist und die Seriosität sich schnell als Blindheit entpuppt, wenn Doppelzüngigkeit Hauptsprache ist, Lebensweisheit im Spiel der besten Intrige besteht und die Liebe einem Segelflug durch einen Canyon der Mißverständnisse gleicht, dann ist man wahrscheinlich bei Molière eingeladen. Und bei Tartuffe ist man natürlich besonders gern zu Gast, denn gibt es in der Theaterliteratur eine widerlichere Figur als den bigotten Heuchler und Egoisten im Federkleid der Bibelseiten, der durch seine Ränke scheinbar so mühelos zum Erfolg kommt? Und ist es nicht eine der größten Unterhaltungen intellektueller Schadenfreude zu sehen, wie dieser Tartuffe im Moment seiner größten Selbstgewißheit seiner eigenen Unverfrorenheit unterliegt, wie der wohlmassierte Schleim seiner Rede zurückfließt in die Gesichtsform eines ekelhaften Wurms?

Die Kunst in diesem Match zwischen zwei Fädenziehern – dem erbschleichenden Hausfreund Tartuffe und der klugen Zofe Dorine –, in deren Händen die versammelte Naivität der Familie zur Knetmasse eines komödiantischen Marionettenspiels wird, besteht in der Wiedererkennbarkeit. Denn so einen Tartuffe, vielleicht in gelinderen Maßen, muß jeder im Saal persönlich hassen können, damit die Schadenfreude richtig zünden kann. Ebenso muß der Hausvater Orgon in seiner katastrophischen Kombination von Vertrauensseligkeit und Halsstarre Züge heutiger Chefs und Väter tragen, um das Publikum innerlich so zu schütteln, daß es wie im Kasperletheater schreien möchte: „Vorsicht Orgon, der Parasit!“

Und auch damit sich die Sympathie wirklich voll auf die Seite der familiären Kritiker schlägt, die der von Schmeicheleien verführte, in Selbstgerechtigkeit verstockte Patriarch für Dünnbrettbohrer hält, müssen diese ihre Rollen vom Muff rücksichtsvoller Blasiertheit befreien und spielen, was der Autor als Zeitgenosse geschrieben hätte.

Daß all dies auch im rückschauenden Kostümspektakel gelingt, verdankt die Inszenierung von Jürgen Flimm, die am Sonnabend im Thalia Premiere hatte, zu guten Teilen der federleichten Neuübersetzung des Chefdramaturgen Wolfgang Wiens. Seine Bearbeitung läßt trotz Reimform schnell vergessen, daß dieser Text im Zeitalter der Etiketten geschrieben wurde, und rückt damit die Figuren ins Scheinwerferlicht von 1996.

Hier zieht Ignaz Kirchner als Tartuffe vom ersten Auftreten an solch wunderbare Kriechspuren über das Parkett, daß man alle devoten Schleimer der eigenen Vergangenheit als Schatten hinter ihm herziehen sieht. Und Hans Christian Rudolphs eitle Naivität fädelt all jene Charaktere auf, die immer alles besser wissen und aus Mangel an menschlicher Kompetenz stets störrisch die Kellertreppe nehmen und dann andere dafür verantwortlich machen, daß sie nicht im Ball-saal gelandet sind.

Es fällt schwer in dem dichten Spiel auf schöner, runder Salonbühne (Dieter Flimm) jemanden ausdrücklich hervorzuheben, aber ohne Annette Paulmann als die leidenschaftliche Intelligenz Dorine hätte wahrscheinlich doch der Akzent gefehlt, der diesen Abend zu wirklich gelungenem Unterhaltungstheater werden ließ. Die Hausangestellte, die als Intrigenkanzlerin die Rechte der Liebe und der Familie wahrt, wird durch sie ein Idealbild der selbstbewußten und angstfreien Frau, wie es sich wohl auch Molière so nicht hätte vorstellen wollen. Ihr gehören die Lacher der Erleichterung und die Hoffnungen der Fans.

Kurz und gut: Hier liegt der Idealfall vor, wo ein Regisseur mit seinem Lieblingsteam und seinem Gespür für Humor eine Inszenierung erarbeitet hat, die einen altbekannten Klassiker so aufmöbelt, daß er sich ohne jede Vergewaltigung des Originals zu einem zeitgenössischen Lustspiel wandelt. Nach dem reflexiven Murks der Antigone wirkt diese Inszenierung dennoch auch wie eine Rückversicherung auf die Qualitäten des Thalia-Intendanten. Die große bürgerliche Unterhaltung der Leichtigkeit scheint Jürgen Flimms Alterswerk zu beflügeln – zu einem Segelflug durch den Canyon des eigenen Anspruchs. Till Briegleb