Vom Leben als Bürger zweiter Klasse

■ Im estnischen Narva leben fast ausschließlich Russen. Estnisch sprechen sie nicht. Vor der Einbürgerung steht ein Sprachtest

Hermansborg und Iwangorod. Zwei große Burgen auf jeder Seite des Narva- Flusses, der seit 1991 wieder offizielle Grenze ist. Und an dessen beiden Ufern RussInnen wohnen. Zu 98 Prozent im russischen Iwangorod, zu 96 Prozent im estnischen Narva. Wie zwei große Grenzbastionen, die mit ihrer vermeintlichen Stärke imponieren wollen, liegen sich die beiden Burgen gegenüber.

Lenin schaut hinüber nach Iwangorod. 1920 zog er hier die Grenze seines Rußlands und gab Estland die Selbständigkeit, die Stalin den EstInnen dann 1940 wieder wegnahm. Als eine der letzten Lenin-Statuen im Lande landete die von Narva nicht auf einem Schrottplatz, sondern mußte lediglich umziehen. In den Park der abseits gelegenen Hermansborg, weg vom zentralen Marktplatz mit seinem rosaroten Rathaus.

In diesem, einem der wenigen geretteten Barockgebäude Narvas, das 1944 von der Roten Armee fast vollständig zusammengebombt worden war, hat Bürgermeister Raivo Murd seine ganz speziellen Alltagsprobleme mit den russischen Nachbarn. Iwangorod hat immer noch nicht die Wasserrechnung bezahlt – umgerechnet mehr als eine halbe Million Mark. Was die Situation des mit chronisch leerer Stadtkasse kämpfenden Narva nicht leichter macht. Und mal wieder daran erinnert, daß nicht nur persönliche und wirtschaftliche Bande die alt-neue Grenze überlebt haben, sondern auch weite Teile der einst nahezu ganz zusammenhängenden öffentlichen Infrastruktur der Doppelstadt Narva-Iwangorod.

„Iwan, bezahle, sonst kannst du dich bald nicht mehr rasieren“, lautet der Text unter der Karikatur eines bärtigen Russen in der estnischsprachigen Zeitung Narvas. „Manche wollen aus allem politisches Kapital schlagen“, kritisiert Murd, „dabei geht es doch nur um Ökonomie.“ Daß möglichst wenig, was sich hier so an Problemen auftürmt, mit Politik zu tun hat, scheint eine Art Glaubensbekenntnis des estnischen Bürgermeisters zu sein.

Wenn immer mehr arbeitslos werden, die EinwohnerInnenzahl von Estlands drittgrößter Stadt stetig weiter sinkt – mit Politik habe das nichts zu tun. Allenfalls mit Ökonomie. Die Klagen der russischen Bevölkerungsgruppe in Estland, Narva und andere „russische“ Städte würden von der Administration in Tallinn systematisch benachteiligt, versucht Raivo Murd mit einem Scherz zu beantworten: „In Wahrheit werde ich doch diskriminiert. Ich werde gezwungen, russisch zu sprechen, damit man mich versteht. Und breche damit täglich unser Sprachengesetz.“ „Glaubt er denn, die Leute würden absichtlich nicht Estnisch lernen wollen“, empört sich Elle Välja über ihr Stadtoberhaupt. Die Lehrerin und Leiterin des Sprachenzentrums von Narva läßt kein gutes Haar an der im Parlament in Tallinn beschlossenen Minderheitenpolitik. Sie ist hier geboren und gehört zur Vierprozentminderheit der EstInnen in Narva. „Das harte Sprachengesetz und die damit zusammenhängenden Staatsbürgerschaftsbestimmungen sind nur aus kurzsichtigen politischen Gründen erlassen worden. Uns, die wir hier leben, die es eigentlich am besten wissen müssen, hat niemand gefragt.“

Fließend Estnisch muß jetzt jeder sprechen, will er die Sprachprüfung bestehen, die einen Paß und die – kleine – Chance auf einen Arbeitsplatz bedeuten kann. „Außerdem muß jeder Fragen zu Geschichte, Kultur und der Verfassung Estlands beantworten, sich in der juristischen Fachsprache schriftlich ausdrücken können und wissen, welches Gericht für welche Sachen zuständig ist.“ Elle Välja redet sich in Rage: „Ich möchte nicht wissen, wie viele Esten mit Pauken und Trompeten durch diese Prüfung rasseln würden.“

Swetlana Wintus versucht alles, diese Prüfung zu bestehen. Als 15jährige ist sie vor 20 Jahren mit ihren Eltern nach Narva gekommen. „Wie die meisten Russen sind sie nicht freiwillig gekommen, sondern wurden von Moskau gelockt oder gar dazu gezwungen.“ Sie hat eine russische Schule besucht, nur Umgang mit RussInnen gehabt, einen Russen geheiratet. Gerne würde die Familie Wintus estnische Pässe bekommen – „unsere Heimat ist Estland, auch wenn wir Russen sind“ –, und niemand kann Swetlana vorwerfen, nicht alles zu versuchen, um die Sprachprüfung zu schaffen.

Doch die Hürden sind nicht in erster Linie die für RussInnen ungewohnten lateinischen Buchstaben und eine Sprache, die für sie noch schwerer zu erlernen ist als für Deutsche beispielsweise Finnisch: Die Hürde heißt Geld. Die Hälfte des Familieneinkommens würde es jeden Monat kosten, wollte Swetlana wöchentlich eineinhalb Stunden einen Sprachkurs besuchen. Zwei Monate hat sie das sogar – noch hat ihr Ehemann Vladimir Arbeit als Polizist – finanzieren können. Länger reichten die Ersparnisse nicht. Jetzt versucht sie wieder, für weitere Stunden Geld zurückzulegen.

Drei Jahre regelmäßiges Studium setzt ihre Lehrerin Elle Välja als Minimum an, will man eine Chance haben, die Sprachprüfung zu bestehen: „Doch wer kann das bezahlen? Die Leute haben ganz einfach kein Geld, und unsere Kurse bleiben leer. Nicht einmal Lehrer können Estnisch lernen. An unseren 14 Schulen in Narva gibt es gerade sechs in estnischer Sprache ausgebildete Lehrer.“

Nein, nur mit einer Gratisausbildung und einer Vereinfachung der Sprachprüfung könnte man auf eine Situation wie die in Narva reagieren. „Doch in Tallinn will das niemand verstehen. Immer wenn ich versucht habe, einem Unterrichtsminister unsere speziellen Probleme verständlich zu machen, wurde er wieder abgelöst. Jetzt sitzt da schon der siebte in drei Jahren, und ich muß wieder von vorne anfangen.“

Daß diese Schwerhörigkeit nicht System sein soll, glauben nur die, die das beruflich müssen, wie Bürgermeister Murd. In ihrem Bemühen, die russische Minderheit, die in der Hälfte der estnischen Kommunen Mehrheit ist, nicht aus ihrer Rolle als StaatsbürgerInnen zweiter Klasse herauskommen zu lassen, treffen sich die Interessen der Kalten Krieger beider Seiten.

Die EstInnen wollen damit den einstigen „Besatzern“ die letzten fünf Jahrzehnte heimzahlen oder sehen diese samt und sonders als eine Art fünfter Kolonne Moskaus, die nur darauf wartet, daß eine ultrarechte Führung in Moskau den verbalen Rückeroberungsplänen Taten folgen läßt. Und für russische NationalistInnen vom Schlage des Führers der „Mitbürgerbewegung“ Narvas, Juri Misin, ist die Forderung nach automatisch doppelter Staatsbürgerschaft nur ein Etappenziel auf dem Weg einer Autonomie des Narva-Gebiets innerhalb des Staats Estland.

Paragraph 62 der russischen Verfassung bestimmt, daß Moskau die Pflicht habe, auch die Rechte der russischen BürgerInnen zu verteidigen, die außerhalb des eigentlichen Staatsgebiets wohnen. Dieser Artikel dient nicht nur Juri Misin als stetige Argumentationsgrundlage, sondern einer starken Fraktion in der russischen Duma als Ausgangspunkt für ihre Drohung, eine Ratifizierung des russisch-estnischen Grenzvertrags scheitern zu lassen.

Jahrelang war um die Festlegung dieser Grenze gestritten worden. Moskau war nicht bereit, auch nur über einen Zentimeter zu verhandeln. Tallinn hatte sich im November bereit erklärt, die ehemalige Grenze zwischen den Sowjetrepubliken als künftige Staatsgrenze anzuerkennen. Das bedeutete einerseits 2.334 Quadratkilometer des von Lenin im Friedensvertrag von Tartu 1920 erhaltenen ehemaligen Staatsgebiets des freien Estlands endgültig aufgeben. Andererseits nahm Estland damit auch das Fehlen jeden Hinweises auf diesen Friedensvertrag in Kauf, der als eigentliche „Geburtsurkunde“ des freien Estlands gilt.

In Estland gelten die Quadratkilometer und das – ganz wesentlich vom „diskreten“ Druck der EU erzwungene – „Kuschen“ vor Moskau als „Verzichtspolitik“. Auf Moskauer Seite ist die offene Wunde der diskriminierten russischen Minderheit die Frage, ohne deren Lösung es keinen „Frieden“ geben könne. In Tallinn hegte man die Hoffnung, die Zeit werde für eine Entspannung der Situation sorgen und hatte damit gar nicht so unrecht. Gab es noch vor zwei Jahren in Narva nahezu täglich Demonstrationen mit mehreren tausend TeilnehmerInnen, herrscht jetzt weithin Ruhe.

Für RussInnen wie Swetlana Wintus sind weder ein Leben in Rußland noch die Forderungen der AgitatorInnen für ein autonomes Narva eine Alternative. Bleibt der Versuch, sich mit den Gegebenheiten und den geltenden Gesetzen zu arrangieren: „Hunderttausend haben die Hürde der estnischen Staatsbürgerschaft bereits geschafft, warum soll ich nicht unter denen sein, die das auch noch schaffen wollen?“

Und Staatsbürgerschaft steht für sie gleichbedeutend für den begehrten Job als Sekretärin, der sich dann bestimmt finden lasse. Für Ehemann Vladimir ist der estnische Paß direkte Voraussetzung, auch ab Mitte nächsten Jahres noch die Polizeiuniform anziehen zu können. Womit sich zumindest darin seine Interessen mit denen von Bürgermeister Raivo Murd treffen.

Für ihn wäre es „eine Katastrophe“, müßte er plötzlich die Mehrheit seiner PolizistInnen entlassen. Diese sprechen nämlich derzeit kaum ein Wort Estnisch. Der Versuch, sich zu arrangieren, hat auch bei Swetlana die Bitterkeit nicht über die Art beseitigen können, wie viele RussInnen sich von den neuen Mächtigen behandelt fühlen: „Im Unabhängigkeitskampf waren die meisten von uns in der ersten Reihe gegen Moskau dabei. Das ist schnell vergessen worden.“

„Denk nur, vor dem Krieg waren wir schon einmal soweit, daß wir hier in der Stadt drei Sprachen hatten, die ganz selbstverständlich parallel gesprochen wurden: Russisch, Estnisch und Deutsch“, will auch Elle Välja die verfahrene Situation so schnell wie möglich geändert sehen: „Ist es denn so illusorisch zu hoffen, daß es einmal wieder so werden wird?“ Noch sei die Sprachenfrage für zu viele offenbar ein zentrales Symbol dafür, sich tatsächlich als freie und selbständige Nation fühlen zu können. Doch die Aufgeregtheit auf beiden Seiten werde sich legen. In ein paar Jahren schon werde niemand mehr verstehen, daß dies einmal eine Streitfrage gewesen sei, hofft Elle: „Wenn es wirtschaftlich aufwärts geht und wenn in Moskau keine Abenteurer an die Macht kommen.“ Und wenn nicht? Zumindest wirtschaftlich scheint die Talsohle in Narva noch lange nicht durchschritten zu sein. Und die Arbeitslosenrate unter der russischen Bevölkerung hat angesichts bereits angekündigter weiterer „Rationalisierungen“ in zentralen Betrieben der Stadt mit rund 40 Prozent ihren Höhepunkt noch nicht erreicht.

Auf dem Weg zum Bahnhof nimmt der Taxifahrer an jedem Hügel den Gang heraus, um im Leerlauf ein paar Tropfen Benzin zu sparen. Das einst hier Selbstverständliche fällt auf, weil man es seit Jahren schon nicht mehr erlebt hat. Quer durch die Ostsee verläuft ein Wohlstandsgraben, so tief wie sonst nirgendwo in Europa. Zwar mag Tallinn auf den ersten Blick mittlerweile wie eine Hafenstadt erscheinen, die auch auf der anderen Seite der Ostsee liegen könnte. Doch nur zwei Stunden Autofahrt davon entfernt vermeint man, schon in einem anderen, fernen Land zu sein. Reinhard Wolff, Narva