O glückliche siebziger Sowjetjahre!

Es war ein Jahrhundert der Erprobung von Utopien an Menschen. Nicht ohne Erfolg: Der Sowjetmensch lebt. Er ist universell, anspruchslos, apolitisch und vollkommen unmoralisch  ■ Von Wladimir Sorokin

Wenn mir jemand von meinen Freunden in den frostigen Breschnew-Jahren gesagt hätte, daß ich nicht nur den Zusammenbruch der Sowjetunion, sondern auch das fünfjährige Jubiläum dieses Zusammenbruchs erleben würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Damals schien der uns umgebende sowjetische Kosmos ein Teil der Natur zu sein, so wie Bäume und Gräser, und er hätte nur mit uns zusammen sterben können. „Die objektive Realität“, das heißt die Definition der Materie gemäß den Lehrbüchern des dialektischen Materialismus, hatte das gesamte sowjetische System vollständig ergriffen. Eine Welt ohne Pionierhalstuch, ohne die Prawda, ohne eine Parade auf dem Roten Platz konnte sich niemand vorstellen.

Nach dem Chrustschowschen Tauwetter gab es zwei Gruppen von Sowjetbürgern, die sich gegenüber der sowjetischen Realität unkonventionell verhielten: Das waren die Dissidenten und die „Bitniks“. Die Dissidenten haßten den sowjetischen Kosmos, die „Bitniks“ machten sich über ihn lustig.

Und so, wie die harte antisowjetische Position der Dissidenten eine entsprechend harte Reaktion bei den Mächtigen hervorrief, so hatte die Sowjetmacht der Ironie der „Bitniks“ nichts entgegenzusetzen. Diese Ironie konnte den sowjetischen Kosmos ungestraft zersetzen. Bei der Moskauer Jugend der 70er Jahre, die mit dem Virus der Popkultur infiziert war, riefen die Attribute der sowjetischen Ideologie eine Art popkünstlerischen Verhaltens hervor: Hippies trugen rote Halstücher und Leninabzeichen. Bei illegalen Konzerten mit den Hits der Rolling Stones hingen Transparente von der Art: „Laßt uns eine höhere Qualität der Produktion erreichen.“ In dieser Verbindung war die Wirkung der Rolling Stones sogar noch stärker.

Im allgemeinen begegnete meine Generation der Sowjetmacht mit Ironie, jedoch ohne Haß. Darin unterschieden wir uns von den Dissidenten, den Schestidesjatniki, mit ihrem Pathos des Kampfes bis zum siegreichen Ende. Die Dissidenten wie auch die sowjetischen Machthaber riefen bei uns Ironie hervor. Ihre Ideologiebesessenheit und Verbohrtheit wurden von uns belächelt, die wir uns unverhohlen als Liebhaber von Haschisch und Zenbuddhismus gerierten. Im biologischen Antikommunismus der Schestidesjatniki war eine schwere Neurose spürbar. Ihre Tragödie besteht darin, daß die Mehrheit von ihnen bis zum Chrustschowschen Tauwetter hundertprozentige Homi sowetici waren, die sich zu den normalen sowjetischen Prinzipien bekannten.

Der Tod Stalins und das Tauwetter jedoch spalteten jäh ihr Bewußtsein, das jetzt jeglicher Authentizität beraubt war. Ihr animalischer Haß auf die Sowjetmacht war eine eigenartige Rache am System, die jedoch ihren paradiesischen, vorchrustschowschen Zustand nicht zu konservieren vermochte. So wie Kinder, die von ihren Vätern verlassen wurden, sich an der Gesellschaft rächen, indem sie zu Dieben werden.

Für die Sowjetmenschen waren wahrscheinlich die 70er Jahre die glücklichsten. Die Zeit schien in diesen Jahren stillzustehen. Die Wirtschaft arbeitete passabel, die Ideologie hatte die Gesellschaft erstarren lassen, und um aus politischen Gründen in den Gulag zu kommen, mußte man sich schon etwas einfallen lassen. Alle machten sich über die lebende Mumie Breschnew lustig, was der gelockerten Zeit entsprach.

Die 80er Jahre mit Gorbatschows Perestroika brachen jählings herein, wie eine Lawine. Allen äußeren Anzeichen nach wollte das sowjetische Volk die Revolution und begrüßte die Perestroika stürmisch. Aber 70 Jahre Erstarrung mußten ein Nachspiel haben, und so versteckten sich hinter dem äußeren Revolutionsgeist nur Müdigkeit und Apathie.

Davon konnte ich mich im August 1991 überzeugen, als der kraftlose Putsch zusammenbrach und mit ihm die Sowjetmacht. Die revolutionäre Menge umringte das Gebäude des KGB in Moskau. Und? Stürmten die Menschen das verhaßte Gebäude? Zerstörten sie es wie die Bastille? Tanzten sie um den Scheiterhaufen mit den Archiven des KGB herum?

Nichts dergleichen. Nicht eine einzige Scheibe des Gebäudes am Lubljanski-Platz ging zu Bruch. Die Menge umringte das Denkmal Dscherschinskis, ganz Mutige kletterten hinauf und umwickelten den Hals des eisernen Felix mit Stricken, und die Menge begann daran zu ziehen... In diesem Moment erschien ein Vertreter Jelzins und wandte sich an die Menge mit der Bitte, das Denkmal nicht ohne Einsatz spezieller Technik niederzureißen. So, als ob der eiserne Felix durch den Sturz den Asphalt beschädigen und die städtische Kanalisation zerstören könnte. Der Jelzin-Vertreter versicherte, daß die Technik bald eintreffen würde. Und so wartete die revolutionäre Menge zwei Stunden lang geduldig auf den Kran.

Woraufhin das Denkmal akkurat abgebaut und weggeschafft wurde. Eine amerikanische Korrespondentin war von der Ruhe der Menge einfach erschüttert. „Wie können sie nur so ruhig sein?!“ rief sie. „Das ist doch ein Fest. Das Ende der Sowjetmacht! Wo ist der russische revolutionäre Geist? Wo ist das heiße revolutionäre russische Blut?“ O weh, ein großer Teil des russischen revolutionären Blutes war schon unter Lenin geflossen, und der Rest erstarrte unter Stalin und Breschnew.

Und so ging der Zusammenbruch des großen Imperiums UdSSR überraschend ruhig vonstatten. Ich würde sagen routinemäßig. Ein großer Teil der Bevölkerung Rußlands bemerkte ihn nicht. Ein wenig Blut wurde an den Rändern des sterbenden Imperiums vergossen. So richtig bemerkten und würdigten nur die Unionsrepubliken den Zusammenbruch der UdSSR, da sie die Freiheit gewannen. Und die Dissidenten, da ihr Lebensziel, der Sturz der Sowjetmacht, erreicht war.

Und so kamen die Schestidesjatniki im postkommunistischen Rußland an die Macht. So hervorragend sie auch als Zerstörer der Sowjetunion waren, so hilflos waren sie in den Fragen der Staatsführung. Ihre Machtübernahme begann mit einer unseligen Allianz mit den ehemaligen Parteibürokraten, die ihr ganzes Leben in den Gebiets- und Stadtkomitees der KPdSU gearbeitet hatten. Nach Parteimanier erhielt der gradlinige, heimtückische und grobe Jelzin von der intellektuellen Elite der Schestidesjatniki ideologische Rückendeckung für seine Politik.

Wohin die Symbiose von Parteibürokratie und Dissidenten geführt hat, kann man mit bloßem Auge erkennen: Zum Zusammenbruch und zur Kriminalisierung der Wirtschaft, einer dilettantisch durchgeführten Privatisierung, der Einführung eines wilden Kapitalismus und dem sinnlosen Krieg in Tschetschenien. Für all das geben westliche Kritiker Jelzin und seiner Regierung, die in der Hauptsache aus der Nomenklatura der Breschnew-Zeit besteht, die Schuld.

Meiner Meinung nach ist es dumm, Leuten Amoralität vorzuwerfen, deren Ethik sich in sowjetischen Parteibüros geformt hat. Die Hauptschuld für die fünf vergeudeten Jahre tragen die Schestidesjatniki. Ihrem Wesen nach sind sie Abrißbirnen, besessen von der Idee der Zerstörung und unfähig innezuhalten. Der Zusammenbruch der totalitären UdSSR ist natürlich eine gute Sache. Nur jetzt, wo die Festung zerstört ist und der Feind am Boden liegt, müssen die Abrißbirnen den Platz anderen Mechanismen überlassen, die etwas aufbauen und die Boden bestellen. Nur, unsere Profizerstörer wollen den Platz an niemanden abtreten, sondern selbst pflügen und ernten.

Als Alexander Solschenizyn aus der Emigration nach Rußland zurückkehrte, riet er den Russen als erstes, sich den Nordosten Rußlands anzueignen – das heißt eine Tundra mit Dauerfrostboden –, und dort wieder Zemstwos einzusetzen. (Zemstwos sind Organe der örtlichen Selbstverwaltung, die im 16. Jahrhundert unter Iwan IV. eingerichtet wurden, um die Kontrolle über die russische Provinz auszubauen.) Die Ankunft Solschenizyns war der Auftakt zu seinen wöchentlichen „Offenbarun

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gen“ im Fernsehen, bei denen der berühmte Schriftsteller, bekleidet mit einem Kittel im Stalin-Schnitt und mit vor Begeisterung zitterndem Tolstoi-Bart, Ratschläge gab, wie denn Arbeiter, Lehrer, Bauern, Intellektuelle und Musiker künftig leben sollten.

Diese Seifenoper dauerte zwei Monate, und am Ende rief sie selbst bei den treuesten Verehrern Solschenizyns Brechreiz hervor. Sodann befanden die Machthaber, daß Solschenizyn, der in den Wirren des postkommunistischen Rußland die Orientierung verloren hatte, sie mit seinen wahnwitzigen Auftritten kompromittierte. Fortan verweigerte sich das Fernsehen seinen Auftritten, was für Solschenizyn der Anlaß war, sich zum zweiten Mal im Leben von der Macht gedemütigt zu fühlen.

Dafür koexistierten die anderen Schestidesjatniki aber um so erfolgreicher mit der Macht der Breschnewschen Parteibürokraten, an denen sie sich festsaugten wie Blutegel. Sie stoßen sich weder an der Korrumpiertheit der Macht und deren Dilettantismus noch an dem von ihr vergossenen tschetschenischen und russischen Blut. Die sturen Dissidenten haben sich mit denjenigen verbündet, gegen die sie einst gekämpft hatten.

Auf den ersten Blick ist das ungeheuerlich, doch für Rußland im 20. Jahrhundert gesetzmäßig. Eines der Hauptziele der Bolschewiken war es, einen neuen Menschen mit einer neuen Moral zu züchten. Jetzt zeigt sich, daß sie ihr Ziel erreicht haben – der neue Mensch ist entstanden und hat sich in den Weiten Rußlands angesiedelt. Dieser Mensch ist universell. Er überlebt in jedem Regime. Er ist anspruchslos, apolitisch und vollkommen unmoralisch. Ihm fehlt historisches Gedächtnis, er lebt nur im Jetzt, nach den Gesetzen des heutigen Tages. Die fünf postkommunistischen Jahre haben gezeigt, wie erstaunlich überlebensfähig der neue Mensch ist.

Die russische Regierung weiß beispielsweise seine Fähigkeit, ohne Geld auszukommen, hervorragend zu nutzen – und zahlt unter Hinweis auf die drohende Inflation einfach keine Löhne mehr aus. Unsere Regierung, das sind dieselben neuen Leute, Nutznießer, die nach der Moral des heutigen Tages leben. Auf der Grundlage der gleichen Moral existieren die neuen Russen, deren Habgier, Wildheit und Infantilität die Spatzen von den Dächern pfeifen... Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert einer Überprüfung von utopischen Ideen an den Menschen. Zweifellos bedarf es eines besonderen nationalen Mutes, um den Virus des Faschismus und des Kommunismus an sich selbst auszuprobieren. Aber im Unterschied zu Deutschland, das der restlichen Welt die Erfahrung der Verseuchung mit der faschistischen Pest vorgelebt hat und verhältnismäßig schnell davon genesen ist, schickt sich Rußland nicht an, gesund zu werden.

Es hat sich mit seiner Krankheit angefreundet. Die fünf Jahre haben gezeigt, daß die Erwartungen des Westens, Rußland im Kreise der Staaten wiedererstehen zu sehen, die sich auf die westliche Moral stützen, naiv waren. Zaristisch, stalinistisch, jelzinistisch – Rußland wird immer Rußland bleiben. Ein Land, das mit einer anderen Moral und nach anderen Gesetzen lebt. Darin besteht sein historischer und geopolitischer Wert. Rußland ist ein metaphysischer Spiegel. Indem sie in ihn hineinsehen, können die westlichen Menschen klar ihre Vor- und Nachteile erkennen. Und wenn der Westen Westen bleiben will, täte es ihm gut, öfter in diesen Spiegel zu schauen.

Wladimir Sorokin ist Schriftsteller und lebt in Moskau. Auf deutsch ist erschienen: „Die Herzen der Vier“. Roman, Haffmanns Verlag

Übersetzung: Barbara Oertel