Ängstlicher Tunnelblick aufs Formale

■ Hamburg Ballett: Premiere von John Neumeiers Choreografie „Vivaldi oder Was ihr wollt“

Ein zerbrochenes Boot sinkt vom Schnürboden herab, ein unglaublicher Katzenjammer steigt aus dem Orchestergraben hervor, dazwischen bemüht sich John Neumeiers Ensemble, alle Derbheit von Shakespeares Geschlechterverwechslungskomödie Was ihr wollt in gefrorene Manieriertheit zu übertragen und alle Euphorie bei Vivaldi in klinische Dosen zu zerteilen. Vielleicht sollte man sagen: Ballett ist eben Ballett, und durch sein beschränktes Ausdrucksrepertoire wird Begierde immer zum Zuckerguß, hübsch erstarrt um die reine Leere. Aber selbst, wem die Gegenbeispiele fehlen, der empfindet es sicher, daß diese Art von Ballett eine Angstveranstaltung ist, deren Choreograf sich vehement gegen zeitgenössische Einflüsse wehrt und Gefühle nur mit der Distanz des Pathos' inszenieren kann.

Warum John Neumeier sich dann unbedingt Shakespeare als Vorlage nehmen muß, ist nicht ganz zu verstehen, aber daß er sich ausgerechnet Was ihr wollt aussucht, ist logisch. Denn das Spiel mit Androgynität, wechselnden Geschlechterrollen, Verkleidung und homoerotischer Sehnsucht, das Shakespeare in diesem Stück entwickelt, hat sehr viel mit Ballett zu tun – es wäre dann allerdings auch angebracht gewesen, mit diesen Komponenten selbstironisch und deutlich umzugehen, aber das ist wiederum nicht John Neumeiers Geschäft.

Seine Tänzerinnen und Tänzer dürfen alles, was außerhalb der klebrigen Gefühlsfäden existiert, die der traditionelle Gestus des Tanztheaters festgezogen hat, nur als Clownerie, Pantomime oder Albernheit darbieten und entschärfen. Neumeiers Tanz ist Eleganz, Athletik und sublimes Gefühlsdestillat in möglichst hoher Reinheit, aber das ist vom Leben so wenig und Shakespeares Hampelmannisierung.

Vivaldis Musik paßt da sicherlich besser zu Neumeiers konservativer Befangenheit, denn hier ist die Gefühlssprache schon selbst vom Konditor. Aber – mal ganz abgesehen davon, daß Max Pommer und das Philharmonische Staatsorchester Vivaldi spielten, als ginge es darum, Cats zu verhunzen – ist Neumeiers Zugang zur Euphorie in höfischer Verpackung die Verpackung.

Elisabethanischer Halskrausen-Prunk neben Querelle-mäßigem Matrosenschwulst aus dem Tiefkühlfach, Biene-Maja-Nummern neben Clowns-Melancholie oder ein Neumeier-Double zur weidlichen Präsentation von in kühles Grau verpackten Hinterteilen – beim Chef des Hamburg Balletts wird stets viel am Aussehen und stets wenig am Geschmack gearbeitet.

Der ist eigentlich immer gleich und gleich beschränkt, weswegen es der Ballett-Chef wahrscheinlich auch nicht dulden kann, daß in Hamburg mal Choreografen arbeiten können, die Leidenschaft nicht als Spitzentanz mit Gipsgrinsen entwerfen. So zeigt er weiter seine Pas de deux' und Gruppenlayouts, die meist galant, gekonnt und gerahmt sind und die man eben nur unter Entbehrung jedes ursprünglichen Inhalts ihrer Form wegen bewundern kann. Persönlichkeit, das ist die Erfahrung aus den letzten Jahren mit John Neumeier-Balletten, ist geduldet, aber nicht erwünscht.

In diesem Rahmen jetzt etwas über die Tänzer (in den Hauptrollen: Gigi Hyatt, Heather Jurgensen, Nicolas Musin und Lloyd Riggins) zu sagen, wäre gemein. Es wäre vielmehr interessant, ihr Talent in den Händen eines Choreografen zu sehen, der Shakespeare nicht als Geschichtenlieferant mißversteht und keinen ängstlichen Tunnelblick aufs Tanztheater hat wie John Neumeier.

Till Briegleb