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Betr.: Katharina

Katharina: Jetzt könne sie aus einer Bucht das offene Meer sehen, sagt Katharina, die eben noch ihren großen Teddy im Arm hielt. Sie überrascht immer wieder mit poetischen Metaphern. Die schützende Bucht ist das Weglaufhaus, das offene Meer die Gesellschaft drum herum. Hier fühlt sie sich einerseits geborgen und beschützt, kann aber auch andererseits unter Hilfestellung der Mitarbeiter Ausflüge in die Gesellschaft machen und testen, ob sie dort wie alle anderen „funktionieren“ kann. Das Weglaufhaus ist „phantastisch“, sagt Katharina, „wie eine richtige Familie“, und lächelt. Sie stammt aus Danzig, kam Anfang der achtziger Jahre mit ihrem geschiedenen Vater nach Berlin. „Er hat mich mein ganzes Leben lang wie eine Pflanze unter Glas gehalten. Als das Glas plötzlich angehoben wurde, habe ich schrecklich gefroren, habe das Leben nicht gepackt.“ Viermal war sie für je zwei Monate in der Psychiatrischen Klinik, geschlossene Abteilung – sie sagt selbst ironisch „Klapse“. Ihr Vater hatte sie hingeschickt, weil sie sich wegen zu lauter Musik gestritten hatten. „Ich wurde dann verbal aggressiv, geriet außer mir, wurde stur.“ Teilweise ließ sie sich auch freiwillig einweisen. Nach der Klinik ging sie zu ihrem Vater zurück, bis es erneut zur Eskalation kam. Beim letzten Mal kam dann der „Durchblick“. „Ich habe mich gefragt, warum bist du gestolpert? In der Klinik haben sie einen Teil meiner Persönlichkeit genommen. Dort herrschen Regeln wie im Knast, immer nur ja sagen, sich unterordnen.“ Sie legte sich mit Ärzten an und lief schließlich weg. Einige Zeit kam sie bei einer Freundin in München unter, doch das Zusammenleben klappte nicht auf Dauer. Zurück in Berlin, blieb nur die Klinik, zu ihrem Vater konnte und wollte sie nicht. „Die haben aber beschlossen, daß ich gesund bin, und mich entlassen.“ Dann hörte sie vom Weglaufhaus. „Hier kann man seine Krisen ausleben, um fünf Uhr morgens auf den Jüdischen Friedhof gehen oder in den Keller und ein paar Stunden abschreien. Dann ist es wieder gut.“ Jetzt plant sie eine neue Ausbildung, eine eigene Wohnung, will „normal leben“, aber ihre „andere Wahrnehmung“ behalten, denn es ist ein Teil von ihr. „Es gibt Leute, die anders sind, das soll die Gesellschaft zulassen.

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