Lesetips zu Sibirien

Anita Kugler, Red. Inland und Politisches Buch Foto: W. Borrs

„Es war die Herrschaft über Sibirien, die Rußland groß machte, und es waren die sibirischen Reichtümer, die es ihm ermöglichten, diesen Platz zu behalten.“ So beginnt Bruce Lincoln, ein amerikanischer Historiker, seine Geschichte der Eroberung Sibiriens, die jetzt auf deutsch vorliegt. Sechshundert Seiten wilde Geschichten über die Unterdrückung der Tataren durch die Kosaken, über den Pelzhandel, das Gold, die Kohlengruben, den Eisenbahnbau, über die zaristische und dann mörderische stalinistische Zwangsarbeit, die gewaltigen Industrialisierungs- und Neulandprojekte und über die unvollstellbare Umweltzerstörung heute. Lincoln hat eine Unmenge von Literatur gesichtet und die Ereignisse und Protagonisten so spannend in Szene gesetzt, daß man Krimis ruhig aus der Hand legen kann.

Dramatisch seine Geschichten über die russischen Siedler im 19. Jahrhundert. Die einen lebten halb verhungert in selbstgegrabenen Erdhöhlen, andere schnippten ihre Zigarrenasche in pure Goldklumpen und pflegten in Treibhäusern ihre Palmen. Atemberaubend seine Erzählungen über die antizaristischen Terroristinnen, die lieber Selbstmord begingen, als sich totschlagen zu lassen. Oder über die Nomaden, die Millionen ihrer Pferde und Rinder lieber schlachteten, als sie in die Kolchosen einzubringen. Und grotesk die Geschichte des idealistischen Amerikaners Jack Scott, der ab 1932 in Stalins Musterstadt Magnitogorsk im südlichen Ural den Kommunismus aufbauen half und dabei vom Bolschewismus gründlich geheilt wurde.

Dieses so schwungvoll geschriebene und gut übersetzte Buch wäre noch besser geworden, hätte der Verlag bei den Landkarten nicht so geknausert sowie einige Bilder hinzugefügt. Auch Bücher ohne Lesefädchen sind im Prinzip eine Zumutung.

Bruce Lincoln, „Die Eroberung Sibiriens“, aus dem Amerikanischen von X. Osthelder und B. Rullkötter, Piper Verlag, München 1996, 571 Seiten, 78 DM

Eben ist auch die Geschichte eines deutschen Handelshauses in Wladiwostok erschienen. 1864 trafen sich in Schanghai zwei junge Hamburger Geschäftsleute, Gustav Kunst und Gustav Albers, beide in China nicht sonderlich erfolgreich. Das Eldorado liege zwischen Amur und dem Pazifischen Ozean, hören sie. Ihr erster Laden im „wilden Osten“ ähnelte einem Drugstore des „wilden Westens“: Streichhölzer, Tee, Munition. Mit dem Wachstum der Stadt durch die Fertigstellung der sibirischen Eisenbahn wächst auch ihr Laden. Kunst & Albers entwickelt sich zu einem berühmten Handelskonzern mit 30 Filialen in Ostsibirien und China. Das Stammhaus führt die letzte Pariser Mode, französischen Champagner und auf Bestellung sogar Amur-Tiger. Der Kriegsausbruch 1914 läutete das Ende dieses ersten deutschen Kaufhauses überhaupt ein. Trotz russischer Pässe gelten alle Deutschen als Spione. Der Firmenchef wird nach einer Intrige ins Innere Sibiriens verbannt. 1924, unter den Bolschewiken, ist dann endgültig Schluß. Das Aufregende an dieser Firmengeschichte ist, neben der Exotik des Ortes, daß Lothar Deeg von den Nachkommen der Kaufleute eine Fülle von unveröffentlichtem Material und viele Fotos zur Verfügung gestellt bekam. Hier hat ein Journalist eine ambitionierte wissenschaftliche Arbeit geleistet. Ein wenig schade nur, daß er oft zu eng an den Quellen klebt und den Reportage-Ton vernachlässigt.

Lothar Deeg, „Kunst & Albers, Wladiwostok. Die Geschichte eines deutschen Handelshauses im russischen Fernen Osten 1864–1924“, Klartext Verlag, Essen 1996, 320 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 68 DM