■ Rechenschwäche, gibt es die?
: Weg vom Links-nach-Rechts-Schema

Dieter Ellrott ist seit 1971 Direktor im Fachbereich Mathematik am Wissenschaftlichen Institut für Schulpraxis (WIS) in Bremen. 1980 hatte er, wie er sagt, zum ersten Mal in seiner Arbeit Kontakt mit lernbehinderten Kindern und beschäftigte sich daraufhin intensiv mit Hirnphysiologie. Sieben Jahre später begann er, das Problem der sogenannten Rechenschwäche auch am WIS zu thematisieren und weiter zu verfolgen. Ellrott hat die Bücher „Förder-Didaktik“ und „Lernspiele“ veröffentlicht und referiert inzwischen bundesweit an vielen Universitäten zur Didaktik der Mathematik.

Sie sagen, Rechenschwäche gibt es nicht.

Dieter Ellrott: Wenn man den Sachverhalt, daß Kinder beim Mathematik-Lernen Schwierigkeiten haben, mit Rechenschwäche umschreibt, dann geht das in Ordnung. Wenn man aber diese Schwierigkeiten mit einem hirnphysiologischen Problem begründet, ist das falsch. Alle Untersuchungen, die wir gemacht haben, zeigen, daß die Kinder hirngerecht völlig normal reagieren.

Wie sehen Ihre Untersuchungen aus?

Ich beobachte, wie die Kinder eine Aufgabenstellung annehmen, wie sie zu einer Lösung kommen und wie sie dabei arbeiten.

Und welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Die Schwierigkeiten der Kinder beruhen darauf, daß sie sich anders orientieren, als der Unterrichtsstoff angeboten wird, und daß sie anders lernen. Die rechte Hirnhälfte dieser Kinder ist ausgeprägter. Und eine Folge davon ist, daß die Kinder sich von rechts nach links orientieren, und das wäre genau die entgegengesetzte Richtung zu unserem Kulturkreis.

Das Problem ist also zum Beispiel, daß von links nach rechts an die Tafel geschrieben wird?

Ja. Da steht eine Aufgabe: Zwei plus Drei gleich wieviel? Die Hälfte der Kinder orientiert sich zunächst mal – das geht in Sekundenbruchteilen – von rechts nach links. Die fangen also mit einer Sache an, wo gar nichts steht, dann kommen sie zu dem Gleichheitszeichen und so weiter. Das heißt, wenn die anderen bereits etwas Sinnvolles erfaßt haben, sind sie immer noch dabei, Hieroglyphen zu entschlüsseln. Nicht, daß sie nicht imstande wären, das auch zu können. Aber sie werden verunsichert, sie denken, sie machen alles falsch. Und dann fangen sie an zu meinen: Ich bin dumm, mit mir stimmt etwas nicht, ich kann nichts.

Sind das einschlägige Erkenntnisse aus der Hirnphysiologieforschung?

Man sieht in dem For-schungsbereich zwanzig, dreißig Prozent als gesichert an. Die anderen Prozente sind Konstruktionsbilder oder Modellbilder, die noch nicht bewiesen sind. Das, was ich eben sagte, kann jeder Mensch bei sich selbst sehen. Es gibt Leute, die blättern jede Zeitung von hinten nach vorne. Oder sie blättern von vorne nach hinten. Die einen klatschen mit der linken in die rechte Hand, andere klatschen umgekehrt. Aber es kommt ja nicht unbedingt auf die Beweisbarkeit einer Theorie an, sondern vor allem darauf, wie die Kinder gefördert werden können, die mir gegenüber sitzen.

Können Sie denn entsprechende Erlebnisse oder auch Ergebnisse nennen?

Ich habe insgesamt etwa 760 Kinder untersucht, und das, was ich eben schilderte, trifft bei über 90 Prozent von ihnen zu. Die Auswirkungen, mit denen die Kinder zu kämpfen haben, sind vor allem psychischer Art. Minderwertigkeitskomplexe stellen sich ein, und eine Fachangst tritt auf. Wir sind also schon dann erfolgreich, wenn die Kinder selbstbewußter werden und sich sagen: Ich kann doch etwas.

Das ändert am Unterricht zunächst einmal noch nichts.

Ich biete ja zum Thema seit 1991 auch Fortbildungen für Lehrer an und versuche, ihnen zu vermitteln, daß es unterschiedliche Didaktik-Methoden geben kann und muß.

Wie kann man sich das vorstellen? Nehmen wir vielleicht nochmal das Schreiben an der Tafel.

Ich kann ja zum Beispiel die Zahlen auch untereinanderschreiben, wie das in allen angelsächsischen Ländern gemacht wird. Das wäre eine Schreibweise, die neutral ist. Es ist nicht so, daß die Kinder sich nicht von links nach rechts orientieren können. Ihre spontane Richtung ist von rechts nach links – und wenn ihnen dieser Zugang ermöglicht wird, haben sie ihre Blockaden nicht mehr. Die anderen Kinder können dabei gleichzeitig die Von-rechts-nach-links-Variante kennenlernen. Und das ist ja eigentlich auch das Üben. Üben heißt nicht, den selben Blödsinn immer wieder aufs Neue durchzuführen, sondern lernen, sich anders zu orientieren, um langfristig darin flexibel zu sein.

Verstehe ich Sie richtig, daß Sie auch gegen einen Förderunterricht für sogenannte rechenschwache Kinder sind?

In einer Zeit, in der die Ressourcen knapp sind, ist das preisgünstigste Mittel, daß sich im Unterricht etwas ändert, ohne daß dabei Lehrkräfte überfordert werden. Wenn die Lehrer wissen, worum es geht, können sie einen ganz normalen Unterricht so machen, daß er gleichzeitig Förderunterricht ist. Es nützt überhaupt nichts, daß diese Kinder noch extra Fördermaßnahmen bekommen, wenn man dann noch mal dasselbe macht, nur eben etwas langsamer und in einer kleineren Gruppe. Förderung heißt hier, daß Lehrer das Phänomen erkennen und sinnvoll darauf reagieren. Interview: sip