Zahlen hüpfen, klatschen, klopfen

■ „Nehmt das Komma in die Hand“: Claudia Paul (13) hat gelernt, daß Mathe auch anders gehen kann / Ihre Mutter gründete eine Elterninitiative gegen „Rechenschwäche“

is zur Zahl Zehn war alles gut. Da halfen Claudia die Finger beim Rechnen. Sie stupfte sie sich nacheinander an die Nase und sprach die Zahlen dazu. In der Schule zählte sie mit ihnen heimlich unter dem Tisch. Dann reichten die zehn Finger nicht mehr, und Claudia begann in der Mathe-Stunde vor sich hin zu träumen. Sie hatte ein Problem. So wurde es zumindest ihrer Mutter beim ersten Elternabend mitgeteilt. Claudia komme nicht mit und halte den Unterricht auf. Die Aufgabe: Üben, üben, üben. Jahrelang ging das so – das Problem wurde nicht behoben. Inzwischen ist Claudia Paul 13, geht in eine siebte Klasse der Gesamtschule Mitte, und ihre Mutter hat für das ganze Drama einen Namen gefunden: Rechenschwäche.

„Das war eine Erleichterung, gegenüber der Schule das mal benennen zu können“, sagt Edeltraud Paul-Bauer. Vor drei Jahren gründete sie eine Initiative mit ähnlich „geplagten“ Bremer Eltern. Edel-traud Paul-Bauer wollte sich nicht länger in dem Gestrüpp aus ständigen Auseinandersetzungen mit Claudias LehrerInnen, einigen erfolglosen (teuren) Therapieversuchen und dem Frust ihrer Tochter verheddern. Sie hatte während eines (kostenlosen) Besuchs bei Dieter Ellrott im Bremer Wissenschaftlichen Institut für Schulpraxis (WIS) erfahren, daß Claudias „Problem“ keines sein muß (siehe auch Kasten), und versprach sich durch die Elterninitiative mehr Öffentlichkeit. Diese ist in den letzten Jahren durchaus breiter geworden: Der Begriff „Rechenschwäche“ tauchte sowohl in diversen Vorträgen als auch in der Bildungsdeputation auf, LehrerInnen nutzten das Fortbildungsangebot am WIS, die Volkshochschule bietet seit Herbst einen Kurs für rechenschwache Kinder an.

Claudia nimmt daran teil, und sie geht gerne hin. Kursleiterin Maria Bosse hat es geschafft, sie nicht abzuschrecken. Wie, kann Claudia gar nicht so genau sagen. Dann erzählt sie, daß gerade Teilen mit Kommazahlen dran ist, und daß Frau Bosse gesagt habe: „Nehmt das Komma in die Hand.“ Da sei es plötzlich gegangen. Claudia ist mit dem frühen Abstrahieren in Mathe nicht klar gekommen, erklärt ihre Mutter. Irgendwann hat Frau Paul-Bauer ihrer Tochter dann ein Rechen-Kästchen geschenkt, das in der Montessori-Pädagogik verwendet wird. Zehn Holzstäbchen verschiedener Couleur in unterschiedlicher Länge stecken darin. Auch jetzt noch vertut sich Claudia mit der Reihenfolge, als sie die Stäbchen zeigt und auflegt. „Ganz bunt sind die“, sagt sie. Es dauert ein wenig, bis sie richtig geordnet sind.

Die Mutter sitzt ruhig und gefaßt daneben. Das war nicht immer so. „Was haben wir früher gebrüllt“, sagt Edeltraut Paul-Bauer. „Dann kriegen die Kinder den Kuhblick und verstummen, und am nächsten Tag ist alles Gepaukte wieder vergessen.“ Bei Dieter Ellrott im WIS hat die Mutter gelernt, ihrer Tochter beim Lernen einfach zuzusehen. Drei Stunden saß Claudia mit ihren Eltern und ihrer Mathelehrerin dem Pädagogen gegenüber, klopfte auf den Tisch, nahm Pfennige auf, hantierte mit Holzkugeln. Claudia wußte nur, „daß es irgendwie um Mathe ging. Hat Spaß gemacht.“

Mathe kann man über Hüpfen, Klatschen und Laufen erfahren, sagt Dieter Ellrott. Oder eben ganz abstrakt, wie es Claudia immer noch in der Schule erlebt. „Nach dem Besuch bei Ellrott dachte ich, das mit dem Lernen wird jetzt anders“, sagt sie. Die Lehrerin akzeptiert sie jetzt zwar, aber noch immer findet Claudia: Die machen da etwas, was sie nicht versteht.

Ihre Mutter fordert einstweilen, daß sich LehrerInnen bereits im Grundschulbereich über die „Rechenschwäche“ informieren, sich frühzeitig fortbilden. Sie möchte, daß das Problem – im Fachjargon auch Arithmasthenie oder Diskalkulie – der Legasthenie gleichgestellt und analog per Förderunterricht berücksichtigt wird. 20 bis 30 Eltern haben sich zwischenzeitlich der Initiative angeschlossen. Die Volkshochschule sucht StudentInnen, die Maria Bosses Kursidee aufnehmen wollen.

Claudias Finger haben beim Rechnen ausgedient, jetzt spielt sie Keyboard. Silvia Plahl