Erst Kostümschnulze, dann Horrorfilm

Leben und Leiden einer Prostituierten namens Maria in Javier Tomeos neuem Roman  ■ Von Katharina Granzin

Dies ist keine Liebesgeschichte, sondern ihre literarische Negation. Es ist die Geschichte von Maria. Maria hat vom Leben nichts zu erwarten, und niemand weiß das besser als sie selbst. Was sie am Anfang von Javier Tomeos neuem Roman „Das Verbrechen im Orientkino“ noch nicht weiß, ist, daß es immer noch schlimmer kommen kann. Tomeo gelingt ein Kunststück, das schreibenden Männern, so sie es denn wagen, meistens eher danebengeht: das Erzählen aus der Perspektive einer Frau.

Seine Maria ist Prostituierte, eine von jenen, die nie eine andere Chance hatten und auch für den Job allmählich zu alt werden. Außer dem Puff, wo sie bisher gearbeitet hat, hat sie im Grunde noch nichts von der Welt gesehen. Nichts Fleischliches ist ihr fremd, doch ansonsten erschöpft sich ihre Bildung in der Kenntnis einiger langweiliger Patiencen. Gegen die Härten des Lebens ist sie mit einem gesunden zynischen Realismus ausgestattet, und von ihrem Zuhälter läßt sie sich allein deswegen durchprügeln, „damit er ein bißchen in die Gänge kam“.

So weit könnte alles in bester Ordnung sein. Doch dann nimmt das Unheil damit seinen Lauf, daß Maria im Kino – während eines Liebesfilms – einschläft und der Platzanweiser Juan sich an sie heranmacht.

Man kommt schnell zur Sache, die allerdings nur halb getan bleibt („,Wer trinkt, soll nicht vögeln‘“, entschuldigte er sich“) und darin mündet, daß Juan ihr vorschlägt zu ihm zu ziehen. Und schon ist es passiert.

Zwar ist Juan alles andere als ein Don Juan. Seine äußere Erscheinung steht seiner sexuellen Potenz an Kümmerlichkeit in nichts nach, was ihn nicht davon abhält, gräßlich mit beidem zu prahlen. Im übrigen säuft er wie ein Loch und lügt, was das Zeug hält. Und dennoch!

Und dennoch ist in Maria, die an Märchenprinzen sowieso nicht glaubt, so etwas wie ein Keim der Hoffnung aufgegangen, der ganz bescheidenen Hoffnung auf ein geregeltes Leben als spießige Hausfrau mit einem Kerl, dem sie die Pantoffeln bringen und Paella machen könnte. Und so ungeheuerlich bescheiden diese Hoffnung auch sein mag, so ist sie doch nichts anderes als eine gefährliche, trügerische Utopie, die geradezu notwendigerweise in einer Katastrophe enden muß.

Im Vergleich zu seinen sonstigen Gepflogenheit geht Tomeo in „Das Verbrechen im Orientkino“ äußerst sparsam mit surrealistischen Elementen um. Die Story ist als beinahe realistisch zu bezeichnen und könnte leicht in den Verdacht geraten, so etwas wie Sozialkritik transportieren zu sollen.

Doch da sei Tomeo vor! Die vergröberte Typisierung der neben Maria auftretenden Figuren verbindet sich mit dem Sarkasmus der Ich-Erzählerin und einem deftigen Sprachwitz (der in der Übersetzung leider mitunter etwas konjunktiv-lastig herübergehinkt kommt) zu einem zynisch-bizarren Melodram, das beim Lesen keine Betroffenheitsgefühle zuläßt, sondern, im Gegenteil, vor allem in den ersten Kapiteln als pure Komik auftritt.

Im Laufe des Romans allerdings weicht die Heiterkeit zunehmend einer eher schwarzen Stimmung, die aber nie uneingeschränkt die Herrschaft übernehmen darf; denn Juans sehr hellhörige Wohnung liegt direkt über dem Kino. Ständig drängen sich in Marias Gedankengänge daher leitmotivische Fetzen der Filme, die gerade laufen. Bezeichnenderweise ist dies am Anfang eine Kostümschnulze, am Ende ein Horrorfilm. Dieser kleine ironische Kunstgriff gibt dem Roman einen raffinierten doppelten Boden, von dem aus nicht nur das Bewußtsein der Erzählerfigur gesteuert wird, sondern wo auch – sozusagen in vereinfachter Projektion – das Verfahren offengelegt wird, das dem ganzen Roman seine Form gibt.

In der Kunst ist nichts anderes drin als wieder Kunst. – Und die Liebe? – Ist eine Illusion der Mittelschicht und der Kinogänger.

Javier Tomeo: „Das Verbrechen im Orientkino“. Aus dem Spanischen von Heinrich v. Berenberg. Wagenbach Verlag, Berlin 1996, 168 Seiten, 36 DM