: Salzkörner als Währung
Tauschringe in Frankreich bieten Dienstleistungen und Naturalien. Die Teilnehmer umgehen die Sozialversicherung und Mehrwertsteuer ■ Von Monika Kleppinger
Es begann vor fast zwei Jahren in Canterate. Der kleine Ort im Département Ariège im französischen Südwesten führte als erster ein SEL ein – ein Système d'échange local, zu deutsch: lokales Tauschsystem. Inzwischen haben sich vorwiegend im Süden des Landes über hundert SEL-Gruppen gebildet. In den strukturschwachen Regionen suchen die Bewohner Auswege aus der wirtschaftlichen Misere. Im Tauschhandel haben sie eine Teillösung gefunden. Ihre fiktiven Zahlungsmittel Grains de sel, Salzkörner, machen es möglich.
Der Weiler Canterate liegt in einer der am wenigsten bevölkerten Regionen Frankreichs im Pyrenäenvorland. Die Arbeitslosenrate war hier schon immer hoch, denn Städte mit industriellen Infrastrukturen wie Toulouse und Tarbes sind über 100 Kilometer weit entfernt. Einige Bewohner, vorwiegend Sozialhilfeempfänger, suchten nach Abhilfe aus ihrer prekären Lage. Denn mit umgerechnet knapp 750 Mark im Monat auszukommen, ist für eine Familie auch bei äußerster Sparsamkeit schier unmöglich.
So verkauft Michel, der seinen Kleinbauernhof abstottert und keinen Franc über hat, zwei Kilo Karotten und fünf Salate an Guy – das macht 40 Salzkörner, die dem Konto des Verkäufers gutgeschrieben werden. Erics Rasen muß gemäht werden. Guy hat einen Rasenmäher und übernimmt die Arbeit, macht ebenfalls 40 Salzkörner die Stunde. Die werden wiederum seinem Konto gutgeschrieben und dem seines Partners abgezogen. „Als das Geld fehlte, mußten wir halt ohne auskommen“, lacht Michel, der seit vier Jahren ohne Arbeit ist. Sein neuerworbener Schafbock hat ihn 600 Salzkörner gekostet, die er durch den Handel mit Eiern und durch verschiedene Arbeiten aufbringen konnte. Damit hat er wieder Hoffnung, denn er kann seine Schafherde vergrößern und Schafsmilch produzieren.
Ein Schatzmeister überwacht die für alle Beteiligten transparenten Transaktionen. Die Preise für die Arbeitsstunden orientieren sich am Franc. Mit nur 50 Franc Anfangsgebühr ist man dabei, wenn man am System teilnehmen will. Hausputz, Babysitting, kosmetische Behandlung, Gemüse, Obst, alte Bücher, Kleidung – was auch immer benötigt wird, kann auf diesem alternativen Markt beschafft werden. Nach Eingang der Kontoeröffnungsgebühr erhält man einen Katalog der Leistungen. Die Kontoführung erfolgt über ein Scheckheft in Form von Gutscheinen. Guthaben und Kredit dürfen eine zuvor festgelegte Summe an Salzkörnern nicht überschreiten.
Aus anfangs 30 Mitgliedern der Tauschgesellschaft in Canterate sind mittlerweile 300 geworden. Und in vielen Dörfern wird inzwischen ein spezieller Markt nur für diese Wirtschaftsform abgehalten. Überall in Frankreich, besonders jedoch im traditionell aufmüpfigen Süden, haben sich inzwischen Tauschringe gebildet von Leuten, die nicht länger abwarten wollen, wann der zentralistische Staat endlich seine Versprechungen einlöst.
Ganz nebenbei führt der Tauschhandel auch noch zu mehr Menschlichkeit, wie François, einer der Kontoführenden, erklärt. Auf dem Konto eines Teilnehmers hatten sich auf der Soll-Seite eine große Anzahl von Salzkörnern angesammelt. Es gelang ihm nicht, das Defizit abzubauen. Wie der Kontoführer bemerkte, „zahlte“ dem Verschuldeten wenig später ein anderer Teilnehmer eine, wie es schien, überhöhte Summe für eine Dienstleistung. Nach Rückfrage erklärte dieser, er habe dem Tauschpartner etwas mehr gutgeschrieben, damit dieser sein Konto schneller ausgleichen könne. Kaum vorstellbar, daß im normalen Währungssystem ein Käufer einem Verkäufer mehr zahlt, um diesem die Bezahlung seiner Schulden zu ermöglichen.
Andere Gruppen, wie SEL 81 in Giroussens unweit von Toulouse, haben festgestellt, daß Tauschhandel auch soziale Schranken abbaut. Serge Bogdel, ein Therapeut und Initiator der Gruppe, berät SEL- Mitglieder und bekommt dafür Salzkörner. Einer seiner Klienten ist der Maurer Alain, der zu Depressionen neigt. Teure Therapiestunden könnte er sich nicht leisten, doch Salzkörner hat er auf dem Konto. Und auch der kleine Luxus nebenbei wird dank SEL möglich. Kaum eine Bauersfrau würde sich eine kosmetische Verwöhnstunde gönnen, im Austausch gegen Frühkartoffeln oder Gemüse ist das ansonsten teure Vergnügen erschwinglich.
Wie viele Teilnehmer am SEL- System feststellen, wandeln sich innerhalb der Gruppen dank SEL die Werte – beim Handel ebenso wie im Umgang miteinander. Es gibt außerdem eine Reihe von Teilnehmern, die das System nicht zur Befriedigung von Grundbedürfnissen brauchen, sondern denen es vorrangig um eine neue Art des Kommunizierens geht.
François aus Canterate hält mit dem Stolz über den Erfolg nicht hinter dem Berg: „Irgendwie muß die Gesellschaft schon merken, daß es so nicht weitergeht. Und der Staat wird reagieren müssen.“ Mit dem Tauschhandel mauscheln sich die Teilnehmer an der Mehrwertsteuer vorbei und umgehen die hohen Sozialversicherungsabgaben. Es gibt bisher allerdings keine gesetzliche Handhabe gegen die Arbeitsform, die als Nachbarschaftshilfe deklariert wird.
Die SELler sind sich bewußt, daß ihr System nur in kleinen, überschaubaren Gemeinden funktioniert, wo jeder jeden kennt und alle Tätigkeiten öffentlich sind. Das derzeitige Wirtschaftssystem ersetzen kann SEL nicht. Aber für viele ist es ein vorläufiger Ausweg aus einer schwierigen wirtschaftlichen Situation.
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