DER HÖCHSTE TURM DER WELT

In China wird das höchste Bürogebäude der Erde von einem noch höheren übertroffen. Einmal mehr will die Regierung damit den Aufstieg zur Weltmacht demonstrieren  ■ Aus Chongqing Simone Lang und Sven Hansen

Ich bin froh, hier arbeiten zu können“, sagt Li Dahai. Der 43jährige hat seit Sommer einen Job auf der Baustelle des Jinlong („Goldener Drache“)-Tower im Zentrum Chongqings in der südwestchinesischen Provinz Sichuan. „Der Turm wird das höchste Gebäude der Welt!“ sagt Li, als er am Abend das Baugelände durch einen Seitenausgang an der Renmin-Straße verläßt. Der frühere Landarbeiter ist froh, in Chinas größter Stadt Arbeit gefunden zu haben. Doch Lis Job ist gefährlich. In diesem Jahr sind 33 seiner Kollegen bei Unfällen auf der Baustelle ums Leben gekommen. Heute will Li mit Kollegen von der unabhängigen Gewerkschaft „23.März“ beraten, wie sie die Arbeitsschutzbestimmungen durchsetzen können.

„Die Arbeitsgesetze werden völlig mißachtet. Nach Todesfällen geht die Bauleitung sofort zur Tagesordnung über“, klagt Li. „Bisher haben die spontanen Proteste der Arbeiter nicht geholfen.“ Vor zwei Jahren hatte Li mit seiner Familie sein Dorf am Jangtse verlassen. Bald wird es überflutet. Denn bis 2009 wird dort der Drei- Schluchten-Staudamm fertiggestellt. Doch die Umsiedlungsprogramme für die 1,8 Millionen Menschen sind unzureichend. „Die Regierung hat uns eine Satellitenstadt versprochen. Doch die gibt es noch immer nicht“, sagt Li. Immer wieder kommt es im Staudammgebiet zu Unruhen. Hunderttausende aus der Region haben sich den zweihundert Millionen Migranten auf dem Weg in die großen Städte angeschlossen.

Lis Familie lebt in einfachen Verhältnissen. Sie konnte die Behörden nicht bestechen, um das für die reichen Küstenstädte geltende Zuzugsverbot zu umgehen. Mit Hilfe eines Verwandten gelangten die Lis in die Bergstadt am Jangtse. Zu Hungeraufständen wie in anderen Regionen ist es dort noch nicht gekommen. Auch von den Bauernrevolten erfährt man in Chongqing nur gelegentlich. Die Stadt ist eines der wenigen Schaufenster im Hinterland, in dem Chinas Aufstieg zur Weltwirtschaftsmacht deutlich wird. Küstennahe Städte wie Schanghai, Kanton und Xiamen haben mittlerweile das Entwicklungsniveau Tokios erreicht. Das Bruttosozialprodukt Chinas wird nach den Berechnungen der Weltbank das der USA zur Jahresmitte 2007 überholt haben. „Höchstes Weltniveau an der Küste, Verhältnisse wie in den 60er Jahren im Hinterland“, schreibt die Asiatische Entwicklungsbank in ihrer jüngsten Studie und fügt hinzu: „Die schwere Umweltkrise Chinas stellt die Welt vor Probleme in bisher unbekanntem Ausmaß.“

In Chongqing will die Regierung beweisen, daß nicht nur die Küstenregionen von der wirtschaftlichen Reformpolitik profitiert haben. Chongqing war 1937 auf die politische Landkarte gesetzt worden — von der Guomindang-Regierung, die auf der Flucht vor den japanischen Besatzern ihren Sitz in die Stadt verlegte. Unter Mao Zedong entwickelte sich in den 60er Jahren die umliegende Provinz Sichuan zum Zentrum der Rüstungsindustrie. Zwanzig Jahre später investierten dort US-Textilkonzerne. Seit den 90er Jahren ist Chongqing ein wichtiger Standort der Autoindustrie.

Chongqing liegt an der Mündung des Jialing in den Jangtse. In den vergangenen Jahren wuchs die Industriestadt rapide. Von 15 Millionen Einwohnern 1996 stieg die Bevölkerung auf offiziell 21 Millionen. Auf weitere drei Millionen wird die Zahl der illegalen Migranten geschätzt. „Chongqing ist aufgrund seiner Funktion als Verkehrsknotenpunkt und seiner preiswerten Arbeitskräfte ein hervorragender Standort“, lobt Bürgermeister Hua Qiyan seine Stadt. Die Lohnkosten sind hier nur halb so hoch wie in Schanghai.

Früher ragte in Chongqing allein das Hochhaus der Schiffahrtsgesellschaft in den Himmel. 1997 wurde mit dem 456 Meter hohen Chongqing-Turm das höchste Bürogebäude der Welt eingeweiht. Mit dem jetzt entstehenden 562 Meter hohen Jinlong-Tower wird ein neuer Rekord erreicht. Das Gebäude ist ein Lieblingsprojekt von Staatspräsident Xu Kuangdi, der es zu seinem Anliegen machte.

In den 90er Jahren war Xu Bürgermeister von Shanghai. Im vergangenen Jahr wurde er Nachfolger des verstorbenen Jiang Zemin. Nach dem großen Korruptionsskandal um den Drei-Schluchten- Staudamm, der Exministerpräsident Li Peng den Kopf kostete, und nach den schweren Unruhen in der Provinz Henan 2004 setzte sich Xu im Machtkampf durch. Er ließ die ideologisch degenerierte Partei in „Großchinesische Volkspartei“ umbenennen und gab ihr eine nationalistisch-konfuzianische Ausrichtung auf der Basis „großchinesischer Werte“.

Xu entwickelte die Politik der „drei Prinzipien“: soziale Stabilität, weltwirtschaftliche Führung und militärische Vormacht. Die Krise beim Bau des Jinlong-Towers kam ihm wie gerufen. Anfang des Jahres stand die Jinlong-Gesellschaft, an der die Southwest China Airlines, die Armee und Investoren aus Hongkong beteiligt sind, vor dem Konkurs. Die Fluggesellschaft hatte sich an der Schanghaier Börse verspekuliert. Einige der Hongkonger Investoren, hinter denen Triaden stehen, waren abgesprungen.

Mit einer Staatsbürgschaft von einer Milliarde US-Dollar griff Xu dem Projekt unter die Arme. Er ließ die Baupläne revidieren und das Gebäude um 13 Stockwerke erhöhen. Damit will er das Kansai- Hochhaus im japanischen Osaka um fünf Meter übertreffen, das Mitte 2007 bezugswertig wird. Der 4,5 Milliarden Dollar teure Jinlong-Tower soll am 1. Oktober 2009 eröffnet werden, dem 60. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China.

In dem 151stöckigen Gebäude wird die Southwest China Airlines ihre Zentrale einrichten. Zur Zeit wächst der Bau alle vier Tage um eine Etage. In luftiger Höhe ragen Arbeitsplattformen aus Bambus hervor. Um den Einweihungstermin halten zu können, wird nicht nur wie üblich an sieben Tagen die Woche rund um die Uhr gearbeitet, sondern auch gegen sämtliche Sicherheits- und Arbeitsbestimmungen verstoßen.

„Wir können nur durch einen Streik die Sicherheit der Arbeiter erhöhen“, sagt Vorarbeiter Peng Xiaohong beim Treffen mit Li und Kollegen von der unabhängigen Gewerkschaft. „Gerade weil der Regierung so an dem Erfolg des Turms gelegen ist, haben wir Chancen, daß sie auf unsere Forderungen eingeht.“ „Heute haben schon wieder hundert Migranten aus Schaanxi nach Arbeit gefragt“, gibt Liu Fucheng zu bedenken. „Sie warten nur darauf, daß wir gefeuert werden.“ „Wir werden uns auf der Baustelle verbarrikadieren müssen“, sagt Peng, der einschlägige Erfahrungen hat.

Der 39jährige Vorarbeiter war am Streik an der Staumauer des Drei-Schluchten-Damms beteiligt. Nachdem am 23. März vergangenen Jahres 220 Arbeiter vom Militär erschossen worden waren und die Regierung durch den Korruptionsskandal in die Defensive geriet, mußte Peking die unabhängige Gewerkschaft dulden. Zwar wurde später die Gewerkschaftsführung verhaftet, aber die Bewegung war nicht mehr aufzuhalten. „Von den 4.000 Arbeitern auf der Baustelle haben 500 Kontakt zum ,23. März‘, 200 haben wir fest organisiert“, sagt Li. „Nach dem Tod der vier Arbeiter aus Guizhou, die gestern beim Absturz ihrer Arbeitsplattform umkamen, ist die Stimmung hoch explosiv.“