1.200 STUNDEN ERWERBSARBEIT IM JAHR

■ Sozialphilosoph Friedhelm Hengsbach über neue Modelle zur Umverteilung der Erwerbsarbeit

Friedhelm Hengsbach lehrt als Professor für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik am Nell-Breuning- Institut in Frankfurt am Main.

taz: 1996, also vor zehn Jahren, hieß es, der Sozialstaat sei nicht zu retten. Mehr als vier Millionen Arbeitslose standen auf der Straße. Heute legen Sie einen Plan vor, der soziale Gerechtigkeit für alle verspricht. Wie denken Sie sich das?

Friedhelm Hengsbach: Die Erwerbsarbeit muß weiter verkürzt und verteilt werden. Ich bin für die 3-Tage-Woche. Jeder geht nur noch 1.200 Stunden im Jahr einer normalen Erwerbsarbeit nach.

Wie ist das kontrollierbar?

Auf der elektronischen Sozialversicherungskarte werden die 1.200 Stunden gespeichert, wer arbeitet, gibt diesen Chip beim Arbeitgeber ab. Die individuelle Arbeitszeit müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer miteinander aushandeln. So könnte etwa ein Ehepaar vereinbaren, daß der Mann von Montag bis Mittwoch in einem Chemielabor arbeitet und die Frau von Donnerstag bis Samstag in einer Bank. Oder der Arzt arbeitet an sechs Tagen in der Klinik. Allerdings müßte er nach einem halben Jahr aufhören. Dann könnte er sich fortbilden lassen oder auf Weltreise gehen. Wir können uns nicht ausschließlich durch die Erwerbsarbeit identifizieren.

Selbst besonders qualifizierte Menschen dürften keine Überstunden machen?

Per Gesetz sollen Überstunden verboten werden. Firmen können sich davon freikaufen, wenn sie eine Sondersteuer bezahlen, die in einen Topf fließt, aus dem gemeinnützige Arbeit bezahlt wird.

Was aber sollen diejenigen machen, die keine Anstellung in einem Betrieb finden?

Es gibt doch vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten in anderen Bereichen. Der Sozialstaat finanziert die Kindererziehung. Für das erste Kind kann man sich die 1.200 Jahresstunden zum Durchschnittslohn bezahlen lassen, für jedes weitere kommen 300 bezahlte Stunden hinzu. Jeder hat eine Mindestsicherung. Allerdings liegt das durchschnittliche Erwerbseinkom- men etwa um 20 Prozent niedriger als vor zehn Jahren.

Und das reicht nicht zum Leben.

Wer mehr verdienen will, kann

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ein bestimmtes Kontingent an gemeinnütziger Arbeit leisten, etwa in der Altenhilfe. Das wird ja von den Krankenkassen bezahlt. Das Gesamteinkommen besteht aus Erwerbs-, Kapital- und Sozialeinkommen.

Weniger Erwerbsarbeit bedeutet auch ein geringeres Steueraufkommen und geringere Einnahmen für Krankenkassen. Wer zahlt die Löhne für gemeinnützige Arbeit?

Wir stehen vor einer großen Finanzierungsinnovation. Alle Erwerbstätigen zahlen Steuer, wie seit alters her. Zusätzlich wird diskutiert, ob nicht alle Unternehmen ihre Mitarbeiter am Gewinn beteiligen müssen. Diese Einnahmen würden natürlich besteuert. Bemessungsgrundlage der Besteuerung ist die Nettowertschöpfung der Unternehmen. Aus ihr werden die Sozialsysteme finanziert.

Unternehmern muß das wie eine Enteignung vorkommen.

Ich habe mit vielen Managern gesprochen. Die sind auf die Dauer gesehen daran interessiert, daß die Bevölkerung mit kaufkräftiger Nachfrage ausgestattet ist. Sie haben gemerkt, daß die hohe Arbeitslosigkeit nicht zum Nulltarif zu haben ist. Denken Sie an die gesellschaftlichen Unruhen vor fünf Jahren. Die Konzerne wissen, daß sie in einer demokratischen Gesellschaft einen eigenen Beitrag leisten müssen, damit die Menschen dem Marktsystem zustimmen. Da sehe ich gerade bei Unternehmern einen enormen Lernprozeß.

Was hieße das für Sie selbst?

Ich gewinne an Lebensqualität. Ich arbeite nur noch zwei Tage in der Woche. Als Pater lebe ich in einer überschaubaren Solidargemeinschaft. In meiner neugewonnenen freien Zeit habe ich Gitarrespielen gelernt und freue mich, daß ich mit 69 Jahren endlich das schöne Lied von Ina Deter spielen kann: „Wenn du so bist wie dein Lachen“. Interview: Annette Rogalla