Wilde Streiks lähmen ganz Israel

Aufrufe zum Protest gegen ein Sparpaket der Regierung Netanjahu zeigen unerwartete Wirkung. Der Parlamentspräsident lädt zur Krisensitzung. Heute droht der Generalstreik  ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin

Israels Gewerkschaftsbund Histadrut legt das Land lahm. Ein Proteststreik gegen von den Gewerkschaftern als „antisozial“ empfundene Sparmaßnahmen der Regierung Benjamin Netanjahus blockiert die Seehäfen in Haifa, Aschdod und Eilat, verzögert den zivilen Luftverkehr, hat die Eisenbahnen zum Stillstand gebracht und die Telekommunikation unterbrochen — betroffen sind insbesondere das staatliche Radio und Fernsehen.

Begonnen hatte der Streik bereits in der vergangenen Woche. Am Wochenende dehnte er sich auf die meisten öffentlichen Dienste, den Regierungs- und Kommunalapparat, auf eine Reihe von staatlich kontrollierten Betrieben und die Banken aus. Ihren Höhepunkt sollen die Proteste heute mit einem eintägigen Generalstreik erreichen. Der Termin wurde gewählt, weil heute im israelischen Parlament, der Knesset, über den Staatshaushalt für 1997 abgestimmt wird. Umgerechnet etwa 3,5 Milliarden Mark will Netanjahu im kommenden Jahr durch höhere Steuern und Einschränkung der Dienstleistungen sparen. Belastet werden nach Ansicht der Gewerkschafter vor allem die Arbeitnehmer.

Netanjahu verurteilte den Streik am Wochenende als „politisch motiviert und unberechtigt“. Finanzminister Dan Meridor (Likud) griff die Histadrut an: Der Gewerkschaftsbund habe sich über „Entscheidungen der Arbeitsgerichte zur Einschränkung oder Verbot von Streiks hinweggesetzt“. Es sei „unerhört, daß Arbeiter gesetzwidrig streiken, die Arbeitsgerichte mißachten“ und bei „diesem Delegitimisierungsversuch der Demokratie die Unterstützung der Histadrut-Führung bekommen“.

Unterdessen ordnete das Arbeitsgericht in Tel Aviv die Verhaftung des hochrangigen Histadrut-Funktionärs Schlomo Schani an. Sein Vergehen: Schani war nicht vor Gericht erschienen, um sich wegen Anschuldigungen des Verstoßes gegen Urteile zur „Streikbeschränkung“ auf maximal drei Stunden zu verantworten. Schani steht an der Spitze des Aktionskomitees der Gewerkschafter, die den Streik organisieren. Das Gerichtsverfahren gegen ihn wurde von der staatlichen Hafen- und Eisenbahnverwaltung angestrengt. Aber auch die Telekommunikationsgesellschaft „Bezek“ hat Histadrut inzwischen verklagt.

Histadrut-Generalsekretär Amir Peretz, der zugleich für die oppositionelle Arbeitspartei im Parlament sitzt, warnte die Regierung vor „Strafaktionen, die zu einer Eskalation des Konflikts führen und der Wirtschaft schaden“. Die eigentliche Mobilisierung der Arbeiter für den Streik erfolgte im Rahmen einer Protestaktion der Angestellten der chemischen Industrie in Haifa. Sie protestierten gegen den Bruch der Kollektivverträge durch die Direktion eines der ertragreichsten Großunternehmen in Israel. Die Histadrut hat in der letzten Zeit vor allem mit der Tendenz der Betriebe zu kämpfen, altes Personal zu entlassen und kollektive Arbeitsverträge durch individuelle Privatabkommen mit einer geringeren Zahl neuaufgenommener Angestellter zu ersetzen. Die Histadrut wehrt sich auch gegen die anstehende Entlassung von 125 der insgesamt 500 Angestellten der chemischen Industrie in Haifa. Der Kampf um die dortigen Arbeitsplätze hat für das Gewerkschaftsbündnis Symbolcharakter für seine bevorstehenden Aufgaben in Israel.

Die Massenstreiks trafen die israelische Regierung völlig unerwartet. Kaum jemand hatte der Histadrut eine derartige Mobilisierung zugetraut. Von der Arbeitspartei in den letzten Jahren durchgeführten radikale Reformen des Gewerkschaftsbundes hatten fast zur Liquidation dieser einst mächtigen Organisation geführt. Übrig blieb eine bisher kaum in Erscheinung getretene Miniorganisation.

Angesichts des unerwarteten Erfolges des Streikaufrufs ergriff gestern der Knessetvorsitzende Dan Tichon die Initiative. Der Likud-Politiker lud zu einer Dringlichkeitssitzung mit Histadrut-Generalsekretär Peretz und Finanzminister Meridor. Ziel: Verhinderung des Generalstreiks.