Das Geheimnis der Schwarzkiefer

■ Japanische Gärten sind Oasen der Ruhe und Schönheit. Die Prinzipien, nach denen sie angelegt sind, lassen sich in jedem Garten anwenden. Eine Bremer Gartendesignerin erlernte den „ästhetischen Gehölzschnitt“

Die einen lassen wuchern, die anderen gehen mit der Nagelschere in den Garten. Was sie verbindet: Schön wollen sie es alle haben in der hauseigenen Grünanlage. Sie soll Entspannung bieten, die Lungen mit gesunder Luft füllen und die Augen mit schönen Bildern. Doch was heißt schon schön?

Anders als im Land der Gartenzwerge ist diese Frage in Japan weitgehend geklärt. Ästhetik wird dort gemessen an festgelegten Prinzipien, die sich über Jahrhunderte entwickelt haben. Diese Prinzipien gelten für alle Bereiche des künstlerischen Ausdrucks. So auch für den Garten, der in Japan eine besondere Kunstform darstellt.

Vor einigen Monaten gründete Bea Linnert in Bremen die Firma „Kuro Matsu“ – so lautet die japanische Bezeichnung für die Schwarzkiefer, den wichtigsten Baum im japanischen Garten. Kuro Matsu bietet Gehölzpflege und Gehölzschnitt an, und zwar den „ästhetischen Gehölzschnitt“. Der unterscheidet sich vom hierzulande üblichen Nutzschnitt, der allein auf den Ertrag der Pflanze ausgerichtet ist, durch eine ganzheitliche Herangehensweise, in der die japanischen Prinzipien aufgehoben sind.

Ginge es nach dem Willen von Bea Linnert, würden zukünftig auch die Gärten in Bremen und umzu von der Herangehensweise japanischer Ästhetik profitieren. Wenn die Gartendesignerin zum ersten Mal einen Garten betritt, so versucht sie zunächst, dessen Charakter zu ergründen. Denn jeder Garten hat eine individuelle Prägung. Dasselbe gilt für jede Pflanze. Müssen die Bäume oder Gehölze beschnitten werden, richtet sich Bea Linnert nach dem Saft- und Energiefluß in der Pflanze, wodurch ihre Wuchsreaktion vorausbestimmbar wird – eine wichtige Voraussetzung für den „ästhetischen Gehölzschnitt“. Alter und Zustand der Pflanze finden bei diesem Schnitt ebenso Beachtung wie ihr Standort: Welchen Stellenwert hat die Pflanze im Garten, wie ist ihr Bezug zu anderen Elementen, wie ist die Linienführung der Anlage komponiert, entlang derer das Auge durch den Garten schlendert? Dies sind Fragen, die beim ästhetischen Gehölzschnitt eine große Rolle spielen. Ziel dieser Herangehensweise ist es, alle Elemente zu einem Bild zusammenzufügen, so daß der Garten als Einheit wirkt.

Schon ein einzelner Ast, der, wenn auch in luftiger Höhe, quer zu einem Weg gewachsen ist, kann diese Einheit stören und dafür sorgen, daß sich der Besucher eines Gartens regelrecht ausgeladen fühlt. Einen solchen Ast sägte Bea Linnert kürzlich kurzerhand ab, gegen den anfänglichen Protest der Gartenbesitzer. Nachdem diese aber die Wirkung des Schnittes einmal wahrgenommen hatten, waren sie froh über die radikale Maßnahme. „Wenn ich den Schnitt an einer Pflanze oder an einem Baum durchführe, würde wahrscheinlich erstmal kaum jemand den Unterschied zum reinen Nutzschnitt bemerken“, sagt Bea Linnert. „Aber nach Abschluß der Arbeit nimmt das Unbewußte die Einheit wahr, die als Harmonie empfunden wird.“

Für die 33jährige Jungunternehmerin, die ihr Studium mit dem Abschluß „Gartendesign“ in Kalifornien absolvierte, hat der reine Nutzschnitt an Bedeutung verloren, seitdem sie begann, sich mit der japanischen Gartenkultur zu beschäftigen. Aus anfänglicher Neugier entwickelte sich eine Faszination, deren Wildwuchs in einem zweiten Studium zur Form fand: Bea Linnert gehörte zum handverlesenen Kreis der StudentInnen, die 1992 in Oakland bei San Francisco an einer zweijährigen Zusatzausbildung bei dem japanischen Meister Dennis Makishima teilnehmen durften. Bei ihm lernte sie, die Welt mit anderen Augen zu sehen, und erfuhr, daß es selbst bei der Gartengestaltung um mehr als Bäume und Sträucher geht: Es geht vielmehr ums Ganze, um das Verhältnis des Menschen zur Natur, um sein eigenes Dasein im Universum.

'In' und 'Yo' lauten die Pole, um die sich diese Welt dreht. Analog zum chinesischen 'Yin'und 'Yang' markieren diese Begriffe nicht etwa Gegensätzliches, sondern die Einheit, die Gesamtheit. Sind die Pole ausgewogen, entstehen inneres Glück und Harmonie. Diese Balance ist nicht Folge einer bestimmten, um ein Zentrum herum gebildeten Symmetrie, wie sie etwa in den Gartenanlagen französischer Paläste zu beobachten ist. Japanische Gartenkunst strebt vielmehr, entsprechend dem Vorbild der Natur, nach einer Ausgewogenheit der Asymmetrie.

Gerade Linien oder perfekte geometrische Formen sind daher eher selten. Wenn sie auftauchen, dann als Kontrast, um eine Spannung herzustellen zu den natürlichen Elementen. Genau und willkürlich komponiert hingegen ist die Anlage als solche: Um ein Gefühl der Weite zu erzeugen, dominieren horizontale Linien, welche durch vertikale kontrastiert werden. Brücken, Stege oder Teiche werden so angebracht, daß sie hauptsächlich diagonal betrachtet werden, wodurch das Gefühl eines tiefen Raumes entsteht. Die japanische Technik bietet einen ganzen Katalog von Mitteln zur Manipulation der Perspektive. So werden, um den Garten weitläufig erscheinen zu lassen, größere Objekte – Bäume, Sträucher, große Steine – im Vordergrund plaziert, während kleinere Objekte den Hintergrund bilden. Die Gärten sind so angelegt, daß sie von verschiedenen Punkten aus betrachtet ein harmonisches „Bild“ bieten. Jedes Element des Gartens, ob Pflanze, Stein, Weg oder Gewässer, steht in einem Kontext und bezieht sich auf das nächste, ist Brücke, Bruchstück, Teil eines Ganzen. Dazu zählt auch die Umgebung des Gartens. Möglich, daß ein Baum auf dem Nachbargrundstück die Harmonie des eigenen Gartens stärkt.

Neben den Pflanzen sind Steine und Wasser die wichtigsten Elemente in einem japanischen Garten. Wer immer es sich räumlich und leisten kann, einen Teich, einen Bach oder doch zumindest ein Bassin anzulegen, sollte dies tun. Denn Wasser verbindet durch die Reflexion den Garten mit dem Himmel und läßt dadurch den Betrachter am Universum teilhaben.

Einbezogen in das Bild wird auch das Fehlende. Das, was man nicht sieht, spielt eine ebenso wichtige Rolle wie das Gegenwärtige. Eine immer wiederkehrende Übung bei der Ausbildung von Bea Linnert durch den japanischen Meister bestand darin, einen Baum oder einen Zweig so zu beschneiden, daß er über die Leerräume, über die Lücken gestaltet wird. Im Idealfall stimmt das Bild dieses „Negativschnittes“ genau mit dem überein, das durch einen Schnitt entsteht, der seinen Ausgang bei vorhandener Materie nimmt.

Das Gegensätzliche gehört zu den wesentlichen Gestaltungsprinzipien des 'In' und 'Yo'. Das Offensichtliche korrespondiert mit dem Verborgenen, Hintergründigen, die Form mit dem Raum, Licht mit Schatten, harte mit weichen Strukturen. Durch die Gegenüberstellung und Asymmetrie wird Spannung erzeugt, die wie ein ruhiger Fluß die beiden Pole 'In' und 'Yo'miteinander verbindet.

So wird ein Gang durch einen japanischen Garten zur Reise der Sinne. Nicht nur das Auge wird über den Steinweg geführt, auch das Ohr nimmt einen veränderten Ton wahr, legt eine andersklingende Strecke zurück als eben noch auf dem torfigen Pfad. Hören, sehen, riechen, fühlen – die Sinne werden als Weg zum Inneren begriffen, und damit, so die taoistischen und Zen-Lehren, als Weg zu Gott.

Dieser Weg zum Inneren braucht keinen großen Raum, er kann im kleinsten Garten angelegt sein. Denn eines der wichtigsten Prinzipien beruht auf der Einfachheit, der Reduktion der natürlichen Kompliziertheit. Nicht die opulente farbige Menge entscheidet, sondern die Schlichtheit. Aus diesem Grunde finden sich im japanischen Garten wenig Blumen. Stattdessen Linien und Anhäufungen von immergrünen Pflanzen, die ihrerseits oftmals Steine symbolisieren, als Zeichen für Stärke, Stabilität und Verbindung zur Erde.

Diese Symbolhaftigkeit scheint von vielen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, verstanden zu werden. Nicht, daß sie von allen erklärt werden könnte. Sie wird aber doch empfunden. Dabei reichen Andeutungen aus, um das Bild des Gesamten zu erzeugen; denn die Betrachterin kann die fehlenden Teile zum tatsächlich Existierenden imaginieren. Dadurch wird sie zur aktiven Teilnehmerin. Sie sieht nicht nur das Offensichtliche, sondern entdeckt das Wesentliche, das als Ahnung bereits in ihr ruht.

Harmonie und Stimmigkeit werden ebenso empfunden wie Unstimmigkeit. Bea Linnert wußte, daß etwas nicht stimmte, als sie im Rahmen einer Übung bei Dennis Makishima eine kalifornische Küstenlandschaft aus kleinen Steinen und Zweigen entworfen hatte. Sie sah sich ihre Komposition an, es schien alles perfekt: Die Elemente hatten einen Bezug zueinander, sie hatte das Wichtigste im Bild betont, alle Prinzipien waren berücksichtigt worden. Dennoch sagte die Ahnung Bea Linnert, daß irgendetwas falsch war. Der Meister ließ seine Elevin lange rätseln, bis er erklärte, daß die Zweige in die falsche Richtung wiesen, da der Wind in Kalifornien niemals vom Inland her weht. Die entworfene Küstenlandschaft gebe es nur in Japan. In dem Fall aber stimmten die gewählten Stilelemente nicht.

„Es geht nicht darum, ein genaues Abbild der Natur herzustellen“, erklärt Bea Linnert, „ es geht eher darum, quasi eine Essenz einzufangen“: Mit den Mitteln der Reduktion und Abstraktion wird ein Bild erzeugt, welches das Wesentliche der Natur und ihrer Kreisläufe darstellt, durch deren Beobachtung wir uns selber kennenlernen.

Wie anders des deutschen Laubenpiepers Seelenhof: Hier gilt als schön, was prachtvoll blüht. Hier werden Schultern geklopft, wenn Blumenmeere explodieren, Obstbäume unter ihrer Last zusammenzubrechen drohen und Rasenflächen gerade Kanten haben. Dahinter schlummern häufig eher Tragödien als Tiefen und eine Auffassung von Ästhetik, die mehr mit Verausgabung als mit Verinnerlichung zu tun hat.

Doch das Interesse an japanischen Gärten steigt. Der Hamburger Stadtpark Planten und Blomen, der über weite Teile in japanischer Technik angelegt wurde, verzeichnet hohe Besucherzahlen. Auch die Zahl privater Anlagen wächst. In Bremen, wo, abgesehen von einem kleinen Steingarten im Rhododendronpark und dem wenig professionellen „Japan-Garten“ im Übersee-Museum, die öffentlich zugänglichen Vorlagen fehlen, bescheiden sich die Menschen zu Hause mit der Topfpflanze, dem Bonsai.

Die japanische Schnitt-Technik läßt sich bei jeder Pflanze anwenden. So können auch „normale“ Gärten davon profitieren. Bea Linnert verbringt folglich viel Zeit damit, ihren KundInnen ihr Wissen weiterzuvermitteln. Dafür braucht sie zuweilen Geduld, doch auch bei den Pflanzen dauert schließlich ein Umänderungsprozeß manchmal Jahre . Dora Hartmann