Multimedia statt Medizin?

■ Ein neues Kapitel in der unendlichen Geschichte um das Schicksal der alten Hals-Nasen-Ohren-Klinik in der St.-Jürgen-Straße: Für 7,5 Millionen Mark will ein Essener Architekt den Bau behutsam restaurieren / Abriß vom Tisch?

Was soll sie mal beherbergen, die alte Hals-Nasen-Ohren-Klinik auf dem Gelände des Zentralkrankenhauses St.-Jürgen-Straße? Künstlerateliers, ein Gründerzentrum für Software-Entwickler und Graphikbüros, Ladenpassagen mit Erlebnisgastronomie, eine Klinik für ganzheitlich orientierte Medizin oder die Krankenpflegeschule? Alexander Schröder, Baumeister des ältesten Bremer Krankenhauses, hätte sich wohl nicht träumen lassen, daß um die Nutzung seines Backsteinbaus aus dem Jahre 1849 dereinst jahrzehntelang gerungen würde.

Der Dessauer Schröder hatte in Bremen schon die Empfangshalle des Hannoverschen Bahnhofs gebaut; aus seiner Feder stammen auch die Pläne für das Alte Gymnasium (heute Hochschule für Künste) und die Justizvollzugsanstalt Oslebshausen. 1849 wurde der Grundstein für Schröders Krankenhaus auf der grünen Wiese in der Pagenthorner Wisch gelegt.

27 Krankenhäuser vor Planungsbeginn besichtigt

Mindestens 27 Krankenhäuser in Deutschland und der Schweiz hatte Schröder zuvor besichtigt. Erst 11 Jahre nach Fertigstellung wurde die genau auf das Gebäude zuführende Humboldtstraße geplant. „Die Sorgfalt, mit der die Proportionen entworfen und durch eine handwerkliche Arbeit von hoher Qualität realisiert wurden, ist erkennbar an den Einzelheiten“, schwärmt der Architekturkritiker Herbert Albrecht 1978 über Schröders Bau. „Klare Trennung der Geschosse durch gemauerte Rollschichten, genaueste Überlegtheit bei der Ausführung der Bögen und Stürze und eine höchst elegante Lösung des Hauptgesimses. Ein Bau ohne Schwulst, voller Klarheit und elegantem Charme.“

„Ohne Schwulst, voll elegantem Charme“

Daß über den denkmalgeschützten Bau nach dem Vorbild des Züricher Kantonsspitals überhaupt noch diskutiert werden kann, darf als Glücksfall gelten. Denn die Abrißbirne für die alte HNO, die seit den 60er Jahren ihre Funktion eingebüßt hatte, lag schon bereit.

1978 hatten sich die Gesund-heitsexperten der SPD unter Gesundheitssenator Brückner in den Kopf gesetzt, den Neubau der geplanten Frauenklinik just dorthin zu setzen, wo Schröders Vorzeige-Krankenhaus stand. Aus „Kostengründen und aufgrund der planerischen Situation“ auf dem Areal des Zentralkrankenhauses St.-Jürgen-Straße käme ein anderer Standort als der der alten HNO nicht in Frage, hieß es damals. Und: „Angesichts des engen Finanzierungsrahmens muß einer verbesserten Patientenversorgung und der Schaffung vertretbarer Arbeitsverhältnisse der Vorzug gegenüber Gesichtspunkten des Denkmalschutzes eingeräumt werden“, urteilte die Landesarbeitsgemeinschaft Gesundheit, die sich der Position des Senats angeschlossen hatte.

Patientenversorgung vor Denkmalschutz

Daß der Abriß durchaus vermieden und die Frauenklinik trotzdem gebaut werden konnte, wußte nicht nur Ex-Bau-Staatsrat Eberhard Kulenkampff (s. Interview auf Seite 18). Auch Professor Axel Hinrich Murken, Vorsitzender der Gesellschaft der Freunde und Förderer für ein Deutsches Krankenhausmuseum, reagierte sofort: Ein „kulturhistorisches Denkmal von unschätzbarem Wert“ würde durch den Abriß verschwinden, das „in seiner betont humanen, dem Bürger zugewandten neuromanischen Architektur auch zukünftig noch für Krankenhausplaner ein lehrreiches Beispiel geben“ könne. Lehrreich ist in jedem Falle der „besonders gravierende Fall“, so Denkmalpfleger Hans-Christoph Hoffmann, des Schicksals der Alten HNO. Die Klinik sei in den 70er Jahren „durch Gutachten kaputtgeschrieben worden“, glaubt Hoffmann.

Durch Gutachten kaputtgeschrieben

Gutachten, die besagten, daß sich die Klinik keiner weiteren Nutzung mehr zuführen ließe. „Eine traurige Begleiterscheinung der Galla-Phase“, spielt der Denkmalpfleger auf den seinerzeit wegen Unterschlagung in Haft genommenen Verwaltungsdirektor der Klinik an, sei es gewesen, daß seine, Hoffmanns, Ideen der Revitalisierung der Klinik Anfang der 80er Jahre gescheitert seien. 4.500 Menschen, so der Plan, zirkulierten in der Klinik, Ärzte, Personal, Patienten, Angehörige – alles potentielle Konsumenten, die ihr Geld in den Ladenzeilen lassen würden, die in den Geschossen des Schröder-Baus florieren würden. Daraus würde heutzutage nichts mehr werden, weiß Hoffmann. Nicht zuletzt, weil die „Verweildauer der Patienten in der Klinik rapide gesunken“ sei.

Nicht nur das. Das Zentralkrankenhaus St.-Jürgen-Straße hat keine müde Mark mehr übrig für den Bau auf dem Gelände, wo im Souterrain noch die Gärtner und Maler ihre Sozialräume haben, die Telefonzentrale ihren Sitz hat und im Dachgeschoß das Focke-Museum ein Magazin unterhält.

Für die Heizung ist kein Geld mehr da

Zum Jahreswechsel wurde die Heizung abgestellt, das Focke-Museum muß sich für das Magazin einen neuen Standort suchen, Dienstleistungen werden sukzessive privatisiert.

Wer die vier Geschosse – Sockel-, zwei Vollgeschosse, ein Dachgeschoß –, gesäumt von den geräumigen Krankenzimmern, Operationssälen und Waschräumen, passiert, stößt trotzdem noch auf Leben. Im ersten Geschoß, dort, wo ein Vorbau früher die einfahrenden Kutschen vor Regen schützte und der heute als Terrasse dient, hat sich „Die Farm“ wohnlich eingerichtet. Ein Kreativbüro, das sich mit Software-Entwicklung und Screen-Design befaßt.

Und mit Stadtentwicklung. Die drei Jungdynamiker von der „Farm“ haben vom Bausenator den Auftrag für eine Machbarkeitsstudie bekommen, über die künftige Nutzung der Alten HNO nachzudenken – ein weiteres Kapitel in der scheinbar unendlichen Geschichte des „Palastes der Armen“, wie die Klinik im Volksmund hieß. Oder das Happy End?

Happy End für den „Palast der Armen“?

Rainer Krause, Absolvent der Hochschule für Gestaltung im Fachbereich Freie Kunst und mit der „Farm“ Büromieter der ersten Stunde in der alten HNO, bindet nicht nur der Arbeitsplatz an die Klinik, sondern die Leidenschaft. Seine Vision: ein Gründerzentrum für Multimedia-Dienstleister nebst Gastronomie.

Krause hat den Essener Architekten Heinrich Böll beauftragt, die Kosten für eine solche Nutzung zu berechnen. Mit 7,5 Millionen Mark will Böll, der Krause bereits für dessen behutsame Planung bei der Restaurierung historischer Gebäude aufgefallen ist, dabei auskommen – das entspricht 1.366,55 Mark Umbaukosten pro Quadratmeter.

1.366,55 Mark Umbaukosten pro Quadratmeter

Dafür bringt der Architekt die 4.300 Quadratmeter vermietbare Nutzfläche wieder auf Vordermann: Betriebssicherheit, Fluchtwege, brandhemmende Türen, ein zusätzliches Treppenhaus, Instandsetzung der sanitären Anlagen – alles im Preis drin. Alles andere bleibt, wie es ist: die Raumzuschnitte, die Fluchten, die Böden, die Decken.

Mieter, die bereit wären, einzuziehen, stehen bei Fuß, sagt Rainer Krause. Angelockt werden sie durch die Lage, die Atmosphäre des Gebäudes und durch einen der drei leistungsfähigsten ATP-Switcher, die Bremen zu bieten hat und der in der Telefonzentrale des Krankenhauses verkümmert. Mit dem Switcher lassen sich rapide riesige Datenmengen ins Internet jagen und empfangen – ideal für jene Art von Dienstleistern, die hier mal einziehen sollen. Gastronomie wird es auch geben, glaubt man Rainer Krause. Von den Gastronomen, mit denen er in Verhandlung steht, liegt derzeit der Delikatess-Shop „Topaz“, bislang am Ostertorsteinweg zuhaus, vorn.

Walter Bremermann, seit drei Jahren Verwaltungsdirektor des Zentralkrankenhauses St.-Jürgen-Straße, glaubt nicht so ganz an die Mieter, die hier – Büro an Büro, Etage über Etage – von den Synergieeffekten eines multimedialen Gründerzentrums profitieren sollen. Vielleicht sind das alles bloß „Lippenbekenntnisse“ einiger „Nostalgiker“, die im Ernstfall, wenn's nämlich ums Investieren geht, zurückschrecken. Bremermann hat der „Farm“ die in ein kühles High-Tech-Büro verwandelten Räume in der alten HNO zum 31.12.96 erstmal gekündigt. Doch die Farmer wollen nicht freiwillig weichen, hoffen auf Duldung. „Bei der Kündigung waren Leute in der Verwaltung am Werk, die immer noch für den Abriß der Klinik sind“, glaubt Rainer Krause.

Diese Leute seien in seiner Verwaltung „nicht vorhanden“, sagt Bremermann, und ein Abriß sei „definitiv nicht gewollt“. Was gewollt ist, unterteilt Bremermann so:

Erste Priorität hat für ihn eine ganzheitlich orientierte Klinik mit 64 Betten auf 4.000 Quadratmetern; zweite Priorität: der Umzug der Krankenpflegeschule, die aus ihren dezentralen „stark abgängigen“ Räumlichkeiten eh' bald raus muß, in die Klinik; drittens: das Gründerzentrum. Für die Krankenpflegeschule in der alten HNO sieht Bremermann eine Perspektive, notfalls dürfe sie sich auch mit den Büros des Gründerzentrums die Flure teilen.

Vom Tisch sind hingegen die Pläne einer Herzchirurgie auf dem Gelände. Die alte HNO für eine technikintensive Nutzung umzurüsten käme teurer als ein Neubau. Die Böden schwingen zu stark, die Funktionswege sind zu lang, die Betriebskosten zu hoch. Daran ändern auch das neue Dach und der komplette Fensteraustausch nichts, die die Stiftung Wohnliche Stadt dem Gebäude spendiert hat, nachdem ein rauher Winter für Löcher im Dach und Wasserschäden gesorgt hat.

„Gezielte Verwahrlosung“

Ein rauher Winter? Denkmalpfleger Hoffmann glaubt eher an „gezielte Verwahrlosung“ seitens der Krankenhausleitung. Doch von der bösen Fama, daß ein Bautrupp mit der Spitzhacke für die Löcher im Dach gesorgt hat, um den Abriß des Hauses zu rechtfertigen, will er nichts hören.

Gleichviel: Die Alte HNO ist ein „anständiger Rohbau“, weiß der Denkmalpfleger, und Rainer Krause und seine beiden Kollegen, von Haus aus Grafikdesigner, sind guter Hoffnung, daß sich dort, wo einst Kranke auf den Fluren ihrer Genesung harrten, bald adrette Kreative beim Brainstorming tummeln.

Doch vielleicht kommt auch alles ganz anders. Krause hat da schon einiges erlebt in der Stadt: „Helga Trüpel und Staatsrat Schwandner waren auch mal hier, haben Himbeertorte mit Sahne bekommen, alles ganz toll gefunden, ,macht mal, macht mal!' gerufen, und als die Frage nach der allerbescheidensten Grundrestaurierung kam, hieß es: ,Geld haben wir keins!'“. Alexander Musik