: Blase im System
Ulrich Berger war Hilfskoch und kellnerte auf Hiddensee, bevor er rübermachte in den Westen und sein Schauplatz Theater gründete ■ Von Hans W. Korfmann
Es ist gewiß kein Zufall, daß das Schauplatz Theater in der Dieffenbachstraße Diderots zweihundert Jahre alten Dialog über die Käuflichkeit der Kunst auf die Bühne bringt. Auch das Schauplatz Theater ist in seiner Existenz bedroht: Die ABM-Stellen sind nicht verlängert worden, der zehnjährige Mietvertrag ist soeben offiziell ausgelaufen. Jetzt steht Ulrich Berger, der Intendant des Schauplatz Theaters, ähnlich wie Rameaus Neffe vor der Frage: Wie verdiene ich als Künstler mein Brot? Wird man sich nach einem Mäzen umsehen müssen, um weiterzumachen – mit den unverkäuflichen Sachen, die man hier seit zehn Jahren inszeniert!
Ulrich Berger wird nicht aufgeben. Dazu ist er nicht der Mann. Er hat sich immer irgendwie durchgebissen. Wenn man die ersten Eintragungen im tabellarischen Lebenslauf liest, räumt man dem gerade Sechsjährigen kaum eine Chance ein. Denn die Geschichte von Ulrich Berger beginnt so wie die der meisten, die eine Hälfte des Lebens im Heim und den Rest in deutschen Strafvollzugsanstalten verbringen: Die Mutter tot, der Vater im Gefängnis, der Sohn zuerst bei der Großmutter, dann im Heim. Berger lacht, als er das erzählt, steht im Schauplatz Theater hinterm Tresen, spült die Gläser und wischt Aschenbecher aus.
Schon bevor Ulrich Berger in Staggart, Mecklenburg-Vorpommern, im Kreißsaal das erste Mal von sich hören ließ, stand sein Schicksal unter keinem günstigen Stern. Denn eigentlich hätte er gar nicht geboren werden sollen, damals, 1944, als seine Mutter im zerbombten Berlin zum Arzt ging, weil sie glaubte, sich kein Kind leisten zu können. Aber die Ärztin widersetzte sich, und ob die Eltern nun wollten oder nicht: der Sohn kam zur Welt – und hatte sich das erste Mal durchgesetzt. „Irgendwie hab ich von Anfang an Glück im Unglück gehabt!“
Zum Heiligabend Stuhlbeine angesägt
Als er sechs Jahre alt war, verlor er die Mutter. Alles deutete auf Mord, verhaftet wurde sein Vater. Aber der zuständige Kommissar im Mordfall Berger sei, so unwahrscheinlich es klinge, ein gewissenhafter und intelligenter Mensch gewesen, und in monatelanger Kleinarbeit sei es ihm gelungen, die Lücke in der Indizienkette zu finden und zu beweisen, daß es sich um Selbstmord handelte.
Dennoch kehrte der Siebenjährige nicht nach Hause zurück und blieb vorerst bei der Oma in Westberlin. Sein Vater, der nach angemessener Trauerzeit wieder geheiratet hatte, fand als Mitarbeiter der sowjetamtlichen Täglichen Rundschau nicht die rechte Zeit, sich um seinen Sohn zu kümmern. Erst zwei Jahre später – er war inzwischen technischer Leiter des Verlags Rütten & Loening geworden – wurde er an seinen Sohn erinnert: Man drohte ihm mit einem Parteiverfahren, wenn er es zulasse, daß sein Sohn länger im Westen bliebe und im Sinne des Kapitalismus erzogen werde.
„Doch das Familienglück war nicht von langer Dauer!“ kichert Berger, denn der Kleine sägte am Heiligen Abend heimlich die Sesselbeine der Wohnzimmergarnitur an, und als man sich zur gemästeten Gans an den Tisch setzte, brachen die Stühle zusammen. Zum ersten Mal ertönte hinter der Tür jenes schallende Lachen, mit dem Ulrich Berger noch heute zartbesaitete Mitbürger in die Flucht zu schlagen vermag.
Er landete, gemeinsam mit seinem Stiefbruder, zuerst in einem Wochenheim, kurze Zeit später im Eliteheim in der Königsheide. Doch auch dort hielt man ihn nicht lange aus, zuletzt kam er ins Heim Birkenwerder. „Damit war das Unheil für die nächsten 32 Jahre perfekt! Was hätte anderes aus mir werden können als ein Dramaturg!“
Nur die Ferien verbrachte Ulrich Berger im Kreise der Familie im Schriftstellerheim in Sakrow. Im Sandkasten traf er Gregor Gysi und konnte ihn beim Kartenspiel bescheißen, ohne daß er es merkte, „weil er immer noch an das Gute im Menschen glaubte!“ sagt Berger. „Aber neuerdings dürften ihm da wohl Zweifel gekommen sein!“ Dieses Ferienheim sei so eine Art Blase im System gewesen, in der es sich ein paar Wochen leben ließ, und wo er den „ersten Künstlern“ begegnete.
Anfang der Sechziger machte er das Abitur, bezog eine eigene Wohnung, wechselte neben den Grenzposten im heutigen Tränenpalast Ost- in West-Mark, verdingte sich als Hilfskoch bei der Mitropa, kellnerte auf Hiddensee bei „Frese“, bediente Armin Mueller-Stahl und durfte die edle Stute der Frau Felsenstein neben dem Hoteleingang anbinden. Irgendwie kam er immer durch, später erwarb er den Magistertitel in Philosophie.
Flucht über die grüne Grenze
Den größten Fehler seines Lebens habe er am 13. August 1961 begangen. Berger war an der Komischen Oper beim Tanzstudio von Jeann Weidt engagiert, das an den Rügen-Festspielen teilgenommen hatte, und die Künstlertruppe lag mit ihrem Ausflugsschiff im Hafen von Trelleborg vor Anker, als die Nachrichten vom Bau der Mauer durchs Radio kamen. Er hätte nur zu springen brauchen.
Erst viel später gelingt ihm die Flucht über die grüne Grenze nach Jugoslawien. Drei Stunden lief er durch die ungarischen Maisfelder, bis er die riesigen Scheinwerfer eines Mähdreschers auf sich zukommen sah. Er dachte: „Oh!“ und legte sich flach auf den Boden. Das Monstrum fuhr knapp an ihm vorbei. Als er sich endlich gerettet glaubte, stellte er fest, daß er sich noch immer im Land der Grenztürme befand. „Noch einmal dachte ich: Oh!, setzte mich ins Maisfeld und kramte meine Kenntnisse der politischen Ökonomie hervor. Dann kehrte ich den riesigen Maisfeldern der Produktionsgenossenschaften den Rücken und bin dorthingegangen, wo die Felder etwas kleiner waren.“ So ließ er den sozialistischen Monokulturanbau endlich und endgültig hinter sich.
650 Mark Arbeitslosengeld, eingestuft als Hilfsarbeiter, so war der Westen. Den Ost-Magistertitel in theoretischer Physik und Philosophie konnte er in der Tasche stecken lassen, ebenso die jahrelangen Volontariate und Arbeiten an ostdeutschen Bühnen und Projekten. Aber er ließ nicht locker, und zwei Jahre später hatte er einen Job als Dozent an der Freien Universität. Nachträglich wurde ihm der Magister der Philosophie anerkannt, und das Arbeitsamt blätterte eine nachträgliche Ausgleichszahlung von über 20.000 Mark auf den Tisch. Feine Sache, dachte sich Ulrich Berger und machte das erste Mal in seinem Leben richtig Urlaub. Drei Monate auf den Kanaren, „... ganz schön heftig war das!“
Zurück in Berlin gründete er das Schauplatz Theater und inszenierte als erstes Stück 1986 „Rameaus Neffe“ von Diderot. Über hundert Vorstellungen soll das Stück ausverkauft gewesen sein. Jetzt spielen er und sein Mitarbeiter Christoph Stein es noch einmal, der Kreis schließt sich, sie stehen wieder am Anfang. Die zwei ABM-Stellen für Jugendtheaterarbeit, wertvollste Stütze des Theaters, sind im Oktober weggefallen. Denn der Leiter des zuständigen Arbeitsamtes ist nicht gut zu sprechen auf den Schauplatz, seit das Theater sich mit einem Projekt für deutsch-polnischen Kulturaustausch um mehr ABM-Stellen bewarb. Empfehlungsschreiben des persönlichen Referenten eines gewissen Herrn Genscher und Briefe der polnischen Botschaft flatterten dem gebürtigen Schlesier auf den Schreibtisch.
Fünf Monate blieben die Gelder aus
Vielleicht hatte er einen schlechten Tag, vielleicht waren ihm die Stempel einfach eine Nummer zu groß – jedenfalls muß so etwas wie Panik den kleinen Bürokraten ergriffen haben, als er sich ans Telefon hängte und Schauplatz-Leiter Ulrich Berger beschimpfte: „Für wen soll dieses Projekt denn sein? Etwa für diese Schieber und Schwarzarbeiter?“
Er verlangte vom Schauplatz, daß man die Anträge schnellstens zurückziehe. Da sich Berger & Co jedoch nicht geschlagen gaben, sperrte der clevere Mann die Zahlung für das noch laufende Projekt. Fünf Monate blieben die Gelder aus. Vor Gericht könnte man, wenn man wollte und ginge es mit rechten Dingen zu, diese kurzfristige Zahlungsverzögerung als Erpressung bezeichnen.
Ulrich Berger und Christoph Stein haben sich inzwischen an die Essensmarken des Sozialamtes gewöhnt. Aber wenn man ihnen zuhört, dann überkommt einen schon das merkwürdige Gefühl, daß etwas nicht stimmt im Staate – wenn Menschen, die jahrelang studierten und dozierten, überzeugt und engagiert arbeiteten, gelobt und zitiert wurden, plötzlich überm Abgrund balancieren ...
„Rameau's Neffe“, bis auf weiteres Fr.–So., jeweils 21 Uhr, Schauplatz Theater, Dieffenbachstraße 15, Kreuzberg
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