Wasserwellen und weiße Blusen

Nach Madonnas „Evita“ ist der neue Trend bereits layoutet: Zurück zu den Vierzigern, als Sängerinnen wie Jo Stafford, Peggy Lee und Betty Hutton den US-Laden schmissen. Nennen wir es einmal die Suche nach dem verlorenen Schatz  ■ Von Anke Westphal

1938, das Jahr von Walt Disneys „Schneewittchen“, war ein schlechtes Jahr für Jo Stafford & The Pied Pipers. In sieben Monaten hatten sie ganze drei Dollar sechzig pro Nase verdient und vier der Bandmitglieder ans ordentliche Berufsleben verloren. Ein Engagement in New York war geplatzt, und die Arbeitslosenunterstützung lief aus. Jo Stafford, die einst mit ihren Schwestern Pauline und Christine als Stafford Sisters getingelt hatte, und der klägliche Rest der Pipers nannten sich jetzt „Poverty Incorporated“. 1939, an dem Tag, als Jo den letzten Arbeitslosenscheck einlöste, kam ein Anruf von Tommy Dorsey, dem Leader einer der bedeutendsten Big Bands jener Tage. Jo Stafford blieb bis 1942 bei Tommy Dorsey. Zu Thanksgiving beschimpfte „fun loving“ Tommy einen der Pipers, worauf das Kollektiv den Dorsey- Zug geschlossen verließ. Ein Entschluß von historischer Symbolik.

Eines vorweg: Es geht hier nicht um Jazz oder Kunst versus Tanzmusik oder Profanität, sondern um Wahlverwandtschaften. Nie wieder waren sich Jazz und Tanzmusik näher als zwischen 1920 und 1950. Nie war Jazz später so populär, so rassen- und ländertranszendierend – und so staatswichtig. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren 1943 bis 1949 verteilten die USA aus Gründen der Wehrkraftertüchtigung acht Millionen Schallplatten mit populärer Musik auf der ganzen Welt, sogenannte „V-Discs“ (V für „Victory“).

Jo Stafford veröffentlichte 1944 ein Album mit dem Titel „G.I. Jo“. Der Krieg wurde, mit und ohne Trallala, gewonnen, und 1946 gründete Johnny Mercer, ein Singer-Songwriter, im Rausch der Bedeutsamkeit das Plattenlabel Capitol – anfangs eine Musterfirma von Musikern für Musiker.

Capitol zog sie alle an: Jo Stafford, Judy Garland, Kay Starr, Betty Hutton, Dinah Shore, Billie Holiday, June Christy, Helen O'Connell, Lena Horne. Entwürfe für die Jetztzeit? Was soll so feministisch sein an Wasserwellen und weißen Blusen?

Dazu später. Speichern wir zunächst eine Erinnerung an die Gegenwart: Die Neunziger sind eine Dekade, in der die Summe eines hysterischen Individualitätsstrebens letztlich maximale Konformität ergibt: elastische Konstanz. Was den Sound der frühen und mittleren 40er Jahre nicht nur in den USA ausmachte – und von Puristen lange verachtet wurde –, war die „Vereinbarkeit vollkommener Konstanz mit Elastizität“ oder „ein Entspannungsvermögen um eine Konstante herum“. So jedenfalls steht es in jedem besseren Lexikon.

Eine musikalische Konstruktion, die im damaligen Bandformat ihre Entsprechung fand: SängerIn und Big Band, dezent konturiertes Solo und Gruppe, in jedem Fall aber alle in einem Boot. Selbst Mega-Ego Frank Sinatra diente mal als kleines Rädchen in Tommy Dorseys Big Band. Sprich: immer mit der Truppe, Kameraden beiderlei Geschlechts. Anders formuliert: Es ging nicht so sehr um die Identifizierbarkeit einer Stimme, sondern um ihre Funktion.

Bis zur Mitte der vierziger Jahre sahen sich amerikanische Frauen in ihrer Bedeutung für Gesellschaft und Wirtschaft neu und positiv definiert. Die Männer bekämpften Hitler und die Folgen; Frauen nutzten die Chance zu beweisen, daß sie den Laden USA auch allein schmeißen konnten. Die weiße Big-Band-/Blues-/Solo- Sängerin dieser Jahre stellte durch ihr Auftreten (und anders als schwarze „V-Disc“-Sängerinnen wie Ella Fitzgerald oder Lena Horne) die Idee der Subjektivität nicht in Frage – vielleicht auch, weil sie es nicht nötig hatten.

Ein Konstrukt, das durch ein anderes abgelöst wird. Das Ende des Krieges fiel mit dem Niedergang der Big-Band-Ära zusammen, womöglich, weil das Individuum wieder wichtiger wurde als das Kollektiv. Solostars gediehen wie Pilze auf dem Boden jenes romantischen Optimismus, der jenseits von Deutschland die frühen Nachkriegsjahre ausmachte.

KämpferInnen werden Liebende – und Eltern

Mit Ausnahme der schon immer singulären Dinah Shore, die während des Krieges im Namen des Vaterlands mit Glenn Miller arbeitete, repräsentieren viele aus dem Rang von „Big Band Canaries“ zu Solostars aufgestiegenen Sängerinnen (und Sänger) und ihre Musik den Versuch einer „Transformation der amerikanischen Nation von Kämpfern und Kriegern in eine von Liebenden und – später – Eltern“. Ein Gedanke, der nicht nur dem Jazz-Historiker Will Friedwald einleuchtete, sondern sich auch unter weniger extremen Bedingungen rezipieren läßt: Erst (kalter) Krieg, dann die deutsche Vereinigung, an deren Ende der Eiertanz von Ich-Bewußtsein und Kommunitarismus steht. Heutige Sängerinnen und Role Models wie PJ Harvey und Björk verließen das (Indie-)Band-Modell, um – Björk in Versace, Harvey mit Federboa und rotem Abendkleid – die Diva zu proben.

Ein paar Probleme macht Ahnensuche immer. Die Unterhaltungsmusik der Mitt- bis Endvierziger, der Entspannungsphase also, ist, liebeszerquälte Torch Songs einmal ausgenommen, von universeller Freundlichkeit, thematisch wie musikalisch. Judy Garlands extrem aufgeräumter „Trolley Song“ von 1944 reflektiert schon einen Alltag ohne Krieg. Jo Stafford singt das gleiche Lied im selben Monat wie Garland, verhaltener und sanfter. Die stumme Schönheit zurückgehaltener Gefühle bleibt nach dem V-Day aktuell, auch die latente Melancholie, doch Sehnsucht-Heimkehr-Songs, wie Jo Stafford sie so unvergleichlich sang, verschwinden.

Nancy Franklin schwärmt 1996 in der Village Voice am Beispiel Staffords davon, wie Sängerin und Stimme sich verselbständigen, indem die Stimme sich abzulösen scheint von der Person – eine Theorie, die weder ein forderndes Subjekt noch das beginnende Fernseh- oder Videozeitalter mitdenkt und den anderen Sängerinnen der frühen Vierziger ebensogut gewidmet sein könnte. Doris Day, vor fünfzehn Jahren verlacht und heute zur Trash-Ikone geadelt, gibt mit ihren Anfängen als Sängerin – „Sentimental Journay“ war ihr Hit – zu Ende der 30er/Anfang der 40er Jahre ein Versprechen, das sie zehn Jahre später als Schauspielerin einlöst.

Sister Act – in Cinemascope

Als Schauspielerin versuchten sie sich alle, in Musicals natürlich – einer der Gründe dafür, daß man ihre Tauglichkeit zum Role Model heute unterschätzt. Kay Starr zum Beispiel, die quirlige „Annie Get Your Gun“ der Vierziger, hatte einen Irokesen zum Vater und versuchte sich als erste „Indianerin“ erfolgreich im Showbusiness. Starr landete zudem 1956 als erste Frau einen Rock-'n'-Roll-Hit: „Rock 'n' Roll Waltz“ blieb zehn Wochen auf Platz eins der Charts.

Lena Horne, eine wunderschöne Frau, war das erste schwarze Pin-up jener Jahre und lehnte die einzigen Rollen, die Hollywood Schwarzen zugestand, ab: Dienstbotenrollen. Die Restriktionen von MGM verletzten ihre Würde, und Horne setzte tatsächlich durch, daß sie etwas anderes als schwarze Hausmädchen spielte. Dinah Shore lullte die Leute nicht nur mit ihrer gebrochenen Blues-Süße oder von der Leinwand („Belle of the Yukon“, „Fun and Fancy Free“) herab ein, sondern erwies sich als Rundfunk-Talent und – 1948 – Comedy-Star. Noch kurz vor ihrem Tod 1994 entwarf Shore, eine besessene Golferin, Sportmode. Und auch Peggy Lee beließ es nicht bei der obligatorischen Broadway-Show, sondern band sich an Warner Bros. Cinesmascope.

1939 trat Norma Deloris Egstrom, ein Mädchen aus North Dakota, zum ersten Mal auf. 1941 wurde sie von Benny Goodman entdeckt, der seit 1935 den Titel des „King of Swing“ hielt. Ihre größten Erfolge feierte Peggy Lee Anfang der 50er, als Decca noch groß und ans Brill Building nicht zu denken war. Peggy Lee („Lover“, „Big Spender“, „Is That All There Is“ sind nur drei ihrer 650 Songs) reüssierte nicht nur als Sängerin oder Schauspielerin, sondern auch als Texterin, Komponistin, Malerin, Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Die Karriere von Peggy Lee dauerte, wie die Kay Starrs und Dinah Shores – von wenigen Unterbrechungen einmal abgesehen –, mehr als vierzig Jahre und repräsentiert ähnlich der von Shore die wechselnden Symbiosen, die die populäre amerikanische Unterhaltungs-(Pop!)-Musik während eines halben Jahrhunderts mit dem Jazz, Blues, Swing, der Latin Music und dem Rock 'n' Roll einging.

Nicht Beziehungen, sondern Affären!

Dinah Shore zählte zu den Medien-Pionierinnen der 40er und 50er. 1951 bekam sie ihre eigene „Dinah Shore Show“, moderierte in der Folge Prototypen heutiger Talk- shows und kassierte zehn Emmy Awards. Marshall McLuhan zählte das Radio – und damit eine Ära – zu den „heißen Medien“, das Fernsehen aber zu den „kalten“. An den Chartlists der 40er und 50er Jahre läßt sich die Wachablösung in der amerikanischen Unterhaltungsmusik ablesen wie die Temperatur an einem Thermometer: Die Vierziger gehören ganz Shore, den Andrew Sisters, Jo Stafford, Peggy Lee, Doris Day und Margaret Whiting, Sinatra und Bing Crosby. Die frühen Fünfziger sehen diese Stars weiter in der ersten Reihe, lancieren aber schon Namen wie The Chordettes, Rosemary Clooney (die Tante des Kino-Beaus George Clooney), Bill Haley & His Comets, Fats Domino und Eddie „Guitar Slim“ Jones.

Das Comeback, das die Ikonen der 40er dieser Tage erleben – ich sage nur „Evita“! –, erzählt von der gegenwärtigen Sehnsucht, ihren Lebensraum, wenn auch spät, einzunehmen und zu bewohnen. Warum? Es ist ein rein imaginativer Raum geworden, voller eleganter Kleider, Wasserwellen, reiner Gefühle und Handschuhe, in dem Beziehungen nicht Beziehungen, sondern Affären, Ehe, Liebschaften oder Romanzen heißen.

In ihrer bissigen Phase hat die inzwischen etablierte und verheiratete Pop-Kritikerin Julie Burchill dieses Phänomen mit einem interessanten Stempel versehen: „In den fünfziger Jahren hatten die Frauen Figur und die Männer Statur, und fraglos fanden sie sich gegenseitig verdammt anziehend. Seit den Sechzigern haben wir alle nur noch Körper ... Der Kult der Paarbeziehung kann als die Privatisierung der Psychiatrie betrachtet werden.“

Vom aufregenden Doktor Freud zu Doktor Freudlos – eine Chronologie, in die sich die Vierziger mühelos einbeziehen lassen. Nicht nur die Auswahl an Modellen und Zeichen, auch die Verwirrung darüber ist gegenwärtig groß. Jüngst war die Schauspielerin Winona Ryder in der U.S.Vogue mit Wasserwelle abgebildet. Der Stil Jackie Kennedys, wenn auch zehn Jahre später als der Peggy Lees populär geworden, erlebte vor einem Jahr sein Comeback, und Regierungen scheuen sich nicht mehr, mit dem Verbot von Abtreibungen zu spielen.

Die Party von vorne beginnen

Daß sich PJ Harvey und Björk, die Betonköpfe weiblichen Avantgardismus, auf Peggy Lee oder Betty Hutton berufen und die Songwriterin Fiona Apple den Bogen zu Nina Simone schlägt, erklärt sich weniger aus dem Zyklus der Moden und Geschmäcker als aus dem Kampf um Modelle und ihre interpretatorische Verfügbarkeit. „Cocktail Hour“ (Sony) heißt eine der zahlreichen Wiederveröffentlichungen von Hits der 40er und 50er Jahre: Das Set besteht aus einer CD und einem Booklet mit Partyrezepten. Und zuletzt: Eva Duarte Peron, die 1952 im Alter von 33 Jahren an Unterleibskrebs starb, war eine Zeitgenossin von Stafford, Lee, Shore, Starr & Co. „Evita“ mag als Film vielleicht floppen, doch der Trend ist bereits von allen maßgeblichen Mode- und Lifestyle-Magazinen layoutet.

Individualität, Konformität, Elastizität und Konstanz? Vom Ich übers Wir zum Ich? Vielleicht kommt es ja tatsächlich so, daß, nachdem die Inhalte befreit wurden und alles gesagt ist, das Spiel mit der starren Norm und Form die größere Lust verspricht. Nennen wir es die Suche nach dem verlorenen Schatz.

„Wir haben unsere Arbeit sehr ernst genommen, uns selbst aber nicht.“ Jo Stafford