Reisen durchs innere Ausland

■ „Im Land der Zauberei“ und „Hier Poddema“ – zwei pseudoethnologische Reiseberichte von Henri Michaux

Wenn aus Matrosen Künstler werden, kommt in aller Regel Gutes dabei heraus. Der 1899 in Namur, Belgien, geborene Henri Michaux fuhr so lange zur See, bis Anfang der 20er Jahre die weltweite Verschrottung der Schiffe das Anheuern schwermachte. Doch bis dahin hatte das Reisen für ihn längst seinen Zweck erfüllt: „Er reist ... um die Heimat in ihm auszutreiben, seine Bindungen aller Art und was sich ihm wider seinen Willen an griechischer, römischer oder germanischer Kultur oder an belgischen Gewohnheiten angelegt hatte. Reisen, um heimatlos zu werden“, schreibt Michaux 1959 in einem autobiographischen Text. Als unruhiger Trabant der Pariser Surrealisten blieb Michaux bis zu seinem Tod 1984 umtriebig, er erforschte im Selbstversuch Meskalin, malte und schrieb über seine Reisen nach Ecuador, China und Südostasien. Doch nichts wäre falscher, als ihn einen „Reiseschriftsteller“ zu nennen, überhaupt war ihm die sogenannte Literatur eigentlich zuwider. Im österreichischen Droschl-Verlag, der sich seit einigen Jahren verdienstvoll darum bemüht, die Lücken der deutschsprachigen Michaux-Publikationen zu schließen, erschien jetzt „Im Land der Zauberei“ (1941) und „Hier Poddema“ (1945), zwei pseudoethnologische Reiseberichte über merkwürdig reale Phantasiegesellschaften.

Durch das „Land der Zauberei“ reist Michaux als geduldeter, aber keineswegs nur willkommener Fremder. Ähnlich ambivalent beschreibt er die Sitten und Gebräuche dieser Gesellschaft, ohne jemals in wissenschaftliche Not zu geraten, wenn sich Rätselhaftes nicht aufklären läßt. Er scheint ebenso angewidert wie amüsiert über die jugendlichen Anfänger der Zauberei, die zwar abgeschlagene Schädel in Schränke zu befördern wissen, jedoch noch keine Blutflecken hinterlassen können. Regelrecht begeistert ist er von der Einrichtung sogenannter Elternmärkte, wo sich Kinder zu ihnen passende Eltern suchen, was zu einem beispiellos harmonischen Familienleben führt. „... ein Adoptivvater, der einem gefällt, ist mehr wert als eine ganze natürliche Familie, die einem nicht gefällt.“ Wenn 50 Jahre nach dem Erscheinen dieses Textes aus Japan berichtet wird, daß es dort nunmehr tatsächlich Agenturen gibt, die ganz ähnlich funktionieren, hat man den schönsten Beweis für Michaux' visionären Blick.

Der Verdruß mit den Topf-Poddemäern

So denkt man natürlich auch ständig an Gentechnologie und Retortenbabies, wenn Michaux sich in „Hier Poddema“ ausführlich mit der Züchtung von „Topf-Poddemäern“ beschäftigt: „Der ewige Verdruß, den sie mit den Topf- Poddemäern haben, hat sie veranlaßt, ortsgebundene, festsitzende, fußlose Arten zu züchten, deren Rumpf in einem Nährbad steckt und die mit den Armen arbeiten.“ Während Michaux im „Land der Zauberei“ eine vorindustrielle Gesellschaft beschreibt, die man in irgendeinem fernen Südseeurwald vermuten könnte, ist „Poddema“ der literarische Bericht über einen totalitären Staat, mit einer „Verwaltung“, die z. B. die starke Vermehrung der künstlichen, behinderten Kinder durch gesetzlich geregelte Gemetzel unter Kontrolle hält. Daß man aus den Augen der „Poddemäer aus Errimane“ schöne Schmuckstücke gewinnt und aus ihren Haaren hübsche Stoffe fertigt, liest sich wie eine direkte Anspielung auf die nationalsozialistischen Menschenexperimente. Doch wie bei Kafka muß jeder Versuch, diese Texte als politische, als historische oder als surreale Drogenphantasien zu interpretieren, zwangsläufig danebengehen. Michaux benutzt eine kurze, präzise Form, die leicht dazu verleitet, denn seine „Reiseziele“ sind immer so hübsch überschaubar und wirken – dank seiner genialen Erfindunggabe für Ortsnamen wie „Huina“ oder „Varinai in der Provinz Darridemas“ – genau wie jene idealtypischen Stämme, über die Ethnologen gern ihre Doktorarbeiten verfassen. Michaux war Seemann genug, um sich über das Absurde dieser Form romantisch-wissenschaftlicher Welterkundung zynisch belustigen zu können. In seinen eigenen Berichten zitiert er gerne das Vokabular der Feldforschung, doch bei ihm geht es eigentlich immer um Reisen in ein inneres Ausland, die aber das Erlebnis ungewohnten Lichts und unverständlicher Sprachen brauchten, um aufgeschrieben werden zu können. So heißt es über in der wunderbaren Abhandlung über die Sprache der Udemai: „Nag wird triumphal in das Gespräch eingeführt. Nag, das ist gottgleich ... Nag blockiert Hag. Und was ist Hag, das in fast allen Sätzen vorhanden ist? Das ist die Silbe der Unsicherheit.“ Dorothee Wenner

Henri Michaux: „Im Land der Zauberei. Hier Poddema“. Literaturverlag Verlag 1996. 130 S., 30 DM