„Voll einen vor die Hose gekriegt“

„Aeros“, letzter Staatszirkus der DDR, gab gestern seine allerletzte Vorstellung in der Manege – weil er pleite ist. Die Zirkusleute geben dem Publikum schuld an ihrem Abschied  ■ Aus Berlin Constanze von Bullion

Freilassen will sie die Viecher. In Afrika. Einfach hinfahren, die Wagentüren aufmachen und den kahlen Hinterteilen nachschauen, wenn sie im Dschungel verschwinden. „Meine Schimpansen sollen wieder in ihre Heimat zurück“, sagt Christiane Samel. Doch echt herzerwärmend will ihr das Rührstück von „unserer Tierfamilie“ nicht über die Lippen kommen.

Die Dame mit dem dick gepuderten Gesicht bläst wütend Rauchwolken durch die holzgetäfelten Wagen. Ein paar alte Plakate und eine DDR-Fahne über ihrem Schreibtisch erzählen von besseren Zeiten. Zänkische Papageien und einen schielenden Adler, hysterische Affen und tranige Bären, fette Hühner und nackte Popos aus aller Welt hat die 52jährige Zirkusdirektorin in der Manege tanzen lassen. Jetzt ist „Aeros“ pleite. Der ehemalige Staatszirkus der DDR gab gestern am Potsdamer Platz in Berlin seine allerletzte Vorstellung.

Nach „Zirkus Busch“ und „Berolina“ geht mit „Aeros“ ein weiteres Flaggschiff des Ostens den Bach runter. 95 Artisten, Tierpfleger, Musiker und Beleuchter reisten mit der Truppe. 50 Jahre gab es „Aeros“. Bis zur Wende gondelte der Zirkus zwischen Sowjetunion und DDR herum, jetzt kommen seine Wagen auf den Abstellplatz. 300.000 Mark fehlen in der Kasse. Und auf den Rängen die Zuschauer. „Voll einen vor die Hose gekriegt“ habe man, „weil das Berliner Publikum uns verlassen hat“, erzählt Direktorin Samel.

Im Osten überall das gleiche Bild – Flaute

Auch in Dresden, Leipzig und Halle „war abends die ganz, ganz große Flaute“. Bestenfalls 100 Leute wollten die Show noch sehen. „Wir hatten mit der Sympathie von Ost zu Ost spekuliert“, sagt sie, „aber das ist nicht aufgegangen.“ Die Thüringerin zieht ihr ganz persönliches Fazit dieser Misere: „Ich hasse diesen Staat.“

Marco Meisel sieht die Pleite gelassener. In weißem Sakko mit Goldfliege lauert der rüstige Herr mit den frisch getönten Haaren hinter dem schwarzen Vorhang. Es riecht nach Öl und Sägespänen, nach Pferdeäpfeln und Deostift. Während draußen in der Manege winzige weiße Hündchen durch Reifen springen, bringt Meisel hinter den Kulissen die Braunbären in Stellung. 20 Jahre lang hat er Dressur „mit den gefährlichsten Tieren der Welt“ gemacht, „die habe ich mit der Flasche großgezogen, weil bei denen volles Vertrauen dasein muß“. Heute scheinen Mausi, Carla und Dolly allerdings eher mit dem Schlaf zu kämpfen. Ihr Meister zuckt mit den Schultern, als er sie zum letzten Mal in die Manege schiebt. „Was mal werden soll? Keine Ahnung.“

Ein junger Mann in klappernder Blechrüstung stülpt sich einen Trichter über den Kopf. „Ich spiel' den Zinnmann im ,Zauberer von Oz‘“, erklärt er, „aber wenn mit dem Zirkus Schluß ist, werde ich vielleicht doch noch mal Sänger.“ Mike Wiesack aus Sämmerda bei Erfurt macht Musik, wenn er nun nach Hause kommt, „irgendwas zwischen Schlager und Country, sehr sentimental“. Zu Hause, das ist Mike Wiesacks Campingwagen mit zwei mal fünf Quadratmeter Wohnfläche. Statt im festgeeisten Caravan auf dem Potsdamer Platz zu schlafen, könnte er auch in seine kleine Berliner Wohnung gehen. „Aber da“, erzählt er, „ist mir nach zwei Tagen langweilig.“

„Rasenmähen und Haushalt führen“, bestätigt Yvonne Muderack-Samel, „is' nich'.“ Raubtiere dressiert die 25jährige mit den runden Wangen und dem blonden Haarteil. Vor ihrem Auftritt verkauft sie noch mal Zuckerherzen, Schokolinsen und Kaugummi. 1.200 Mark im Monat kriegt die Tochter der Zirkusdirektorin dafür auf die Hand, „das reicht schon irgendwie“. Zukunftssorgen? „Na ja. Wir haben doch fast nur freie Mitarbeiter, die sind die Unsicherheit gewöhnt.“

Der „Aeros“, das ist für viele Künstler nur eine Station von vielen. Und was nach der ganz großen Familie klingt, ist ein eher zufälliges Sammelsurium von Cliquen und Grüppchen. Die Reiter reden tschechisch, die Gaukler polnisch, die Turner kommen aus Bulgarien, die Springer aus Marokko, aus Deutschland nur die Schauspieler und die Leute, die Direktorin Samel „die Arbeiter“ nennt. Nicht zu vergessen das weißrussische Ballett. Und die Stripperinnen, „alles professionelle“, versichert die Schokoverkäuferin, „die ziehen sich aus bis auf den Schlüpfer“.

Selbst das Konzept mit der Manegenerotik ging schief

Nightshow heißt das Spektakel, mit dem „Aeros“ den ganz großen Coup landen wollte. „Die erotische Geschichte einer Familie, ein wunderschönes Varieté“, beschreibt Zirkusdirektorin Samel das Programm, das eher den unbegleiteten Herrn über 50 anspricht. Was wackelnde Brüste und glänzende Ärsche, leckende Münder und gespreizte Beine der Truppe bescherten, waren allerdings nicht volle Kassen, sondern leere Bänke. Oller Porno statt heißer Show, urteilte das Publikum. Und blieb weg. Christiane Samel will von einem Flop nichts hören. „Man nimmt uns übel, daß wir einen eigenen Weg gegangen sind“, fabuliert sie. „Ich habe nichts bereut.“

Würde ja auch nichts helfen. Diese Woche wird Konkurs angemeldet. Dann werden die Tiere nach Berlin-Hoppegarten gekarrt. Und von den Mitarbeitern der ehemaligen Treuhand gefüttert. Denn der gehört der ganze Zoo. Mitsamt den Schimpansen. Es sei denn, sie hauen doch noch ab nach Afrika.