Der strenge Winter verändert das Empfinden, nicht nur durchs Frieren. Alle spüren plötzlich ihre Verletzlichkeit, nichts läuft wie gewohnt. Aber die abgekühlte Natur gibt auch ein langsameres Tempo vor - und befähigt damit zu neuen Wahrnehm

Der strenge Winter verändert das Empfinden, nicht nur durchs Frieren. Alle spüren plötzlich ihre Verletzlichkeit, nichts läuft wie gewohnt. Aber die abgekühlte Natur gibt auch ein langsameres Tempo vor – und befähigt damit zu neuen Wahrnehmungen

Eisige Kälte polarisiert

„Der Schnee hat ein Auto erdrückt, es war flach wie ein Buch, das Auto.“ Diesen Satz notierte ein von Angst erfüllter Werner Herzog am 1. Dezember 1974 in seiner winterlichen Wanderchronik „Vom Gehen im Eis“.

Der Winter, der strenge Winter, verändert die Anschauung. Und das Empfinden von sich selbst. Nicht allein durchs Frieren. „Tom“, jenes stabile Hochdruckgebiet, das vielen Regionen die kältesten Neujahrstage seit Jahrzehnten bescherte, ließ in den Schlagzeilen die Anfälligkeit des hochtechnisierten Menschen widerhallen. 30 französische Super- TGV-Schnellzüge scheitern an zugeeisten Hochspannungsleitungen und müssen samt fröstelnder Insassen abgeschleppt werden. Auf dem Wattenmeer bricht der Schiffsverkehr zusammen, so daß die Insulaner auf Juist und Wangerooge nur noch aus der Luft erreichbar sind. Im modernen Europa sterben trotz Gas- und Ölheizungen binnen weniger Tage über hundert Menschen an Unterkühlung, vor allem Obdachlose.

Alle spüren plötzlich ihre Verletzlichkeit. Im Anhauch von Väterchen Frost vergeht die technologische Geborgenheit zwischen Kaltstartbatterien und Allradantrieb. Rohrleitungen zerspringen, Schwäne kleben am Eis fest, der Blumenkohl erfriert. Nichts läuft wie gewohnt, Unbequemlichkeiten und wirtschaftliche Einbußen kontert das öffentliche Bewußtsein vor allem mit einem endlosen Lamento – obwohl die meisten sicher im Warmen sitzen.

Als habe es niemals klirrende Winter gegeben, machen die Medien aus der Dauerkälte den Dauerbrenner. Dabei geht es nicht einmal so sehr um die sattsam bekannte Frage, ob Rekordfröste in Europa, schwere Schneefälle in den USA oder Winterstürme in Korea neue Vorboten des Klimakollapses seien. Vielmehr handelt es sich um ein routiniertes L'art pour l'art beim Nachzeichnen von zumeist bösen Eisblumen.

Als 1896 bei Worms der Rhein zufror, so wird berichtet, drehte sich auf dem starren Strom ein Karussell. Ungläubig und fasziniert tanzten die Leute auf dem Eisparkett, und ein überschwenglicher Küfer baute sogar ein Faß dort draußen. Das verzauberte Rheinvölkchen von damals hat vorgemacht, wozu außergewöhnliche Kälte befähigt: zu anderen Wahrnehmungen und zu neuartigen Begegnungen. Wer dieser Tage in seiner überfrorenen Straße auf Schlittschuhen einen aufheulenden Stadtjeep hinter sich gelassen hat, weiß, wovon die Rede ist.

Aber in einer Welt, die aus den Fugen zu geraten droht, wächst das Verlangen nach Normalität. Das gilt insbesondere auch fürs Wetter. Der ersehnte Grat zwischen „Schneechaos“ und „Hitzewelle“ ist schmal geworden. Im Sommer genügen oft schon ein paar besonders heiße Tage hintereinander, um bedrohliche Temperaturrekorde zu vermelden. Weil das Gewohnte überall gefährdet ist, wird jede (vermeintliche) Abweichung davon zuerst mit Unmut und Abwehr quittiert. Geht es um die vereiste Klospülung, erkennen nur wenige die Chance, die im anhaltenden Frost liegt.

Kälte führt einen auf sich selbst zurück – und aufs Elementare. Das biblische Gefühl, übers Wasser zu wandeln, können Zehntausende nachempfinden, die jetzt Alster oder Müritz mit ungewohnter Perspektive abschreiten. Überhaupt hält die zurückgenommene Natur jede Menge sinnlicher Sensationen bereit. Keineswegs nur überraschend pittoreske wie die Eisbärte am Trevi-Brunnen oder die zugefrorene Lagune von Venedig. Wenn etwa die gerinnende Ostsee bei Usedom unter feurigem Abendhimmel wie zähflüssiges Magma schwappt, scheint das Ungeheuerliche möglich.

Die abgekühlte Natur gibt ein reduziertes Tempo vor. Nicht allein die Stille verschneiter Winterlandschaften hebt Ruhe ins Bewußtsein. Wenn in Süddeutschland wegen Glatteis der Verkehr zusammenbricht, wenn Motorvehikel allenfalls im Slow down unterwegs sind, um ja nicht die (Boden!-)Haftung zu verlieren, dann geht es leiser und langsamer zu.

Etwas nicht Menschengemachtes bestimmt spürbar den Takt. Bisweilen erzeugt das Furcht, und es zeigt sich, wie dünn der Firn der Zivilisation ist. Anders als beim Winterurlaub suchen nicht wir die Kälte auf, sondern sie kommt ungewollt zu uns. Das beschwört Ohnmachtsgefühle herauf.

Als vor Heiligabend 500 Passagiere im ICE 71 von Hamburg nach Basel sieben Stunden feststeckten, weil ein vereister Baum in der Oberleitung hing, ging im Zug das Licht aus. Dem Hessischen Rundfunk erzählte eine Reisende, sie habe im unbeheizten Zug gemeinsam mit ihrem Sitznachbarn Weihnachtsgeschenke aufgegessen. Eine unerwartet süße Begegnung, durch die Kälte provoziert. Mit Sozialkitsch hat das wenig zu tun, ist doch vorübergehend ein Stück gedankenloser Alltagsmechanik zerborsten und menschlicher Wärme gewichen.

Natürlich polarisiert Kälte auch. Rumänische Straßenkinder müssen sich vor dem Frost in die Kanalisation verkriechen, und einer obdachlosen Göttingerin erfriert zu Weihnachten ihr Neugeborenes auf dem Bürgersteig. Gleichgültig schlägt die kristallene Kralle zu. Wehe denen, die nicht in der Lage sind, vorzusorgen. Doch Menschen haben die Wahl, das hinzunehmen oder nicht. Also, nachts die Bahnhöfe auf!

Regisseur Werner Herzog wanderte 1974 drei Wochen lang von München bis Paris allein durch den Frost. Er versuchte gegen den Tod eines schwerkranken und von ihm geliebten Menschen anzugehen, der Filmhistorikerin Lotte Eisner. Etwas Wunderbares geschah. Lotte Eisner erholte sich in Paris und lebte noch neun Jahre. Die Kälte ermöglicht uns, Grenzen zu überschreiten. Wer es nicht glaubt, kann es ja auf der zugefrorenen Oder nach Polen hinüber ausprobieren. Thomas Worm