Zwischen Himmel und Hölle

■ Hans Arthur Marsiske lebt vom Schreiben über Film, Medien, Raumfahrt, veranstaltet die Cybernight im Alabama und ist Virtuella. Ein Gespräch über Strange Days und Computerliebe

taz: Was ist für Dich Cyberspace? Virtuella: Cyberspace ist für mich, anders als für die meisten, mehr als eine dreidimensionale Echtzeitsimulation, also mehr als das, was auch virtuelle Realität genannt wird. Es ist ein neues Medium, zu dem eben auch das Internet gehört. Cyberspace bedeutet einen Einschnitt in der Kommunikation, der eigentlich nur vergleichbar ist mit dem der Einführung der Schrift, weil er das Denken und Wahrnehmen der Menschen nachhaltig verändern wird.

Wie werden die Menschen denken? Keine Ahnung. Das Wissen wurde früher mündlich weitergegeben. Die Nibelungen haben zum Beispiel einen Informationsumfang von 10 bis 7 bit. Der Wissensspeicher einer Generation war also begrenzt. Mit der Schrift konnte man nun alles aufschreiben. Nur die Zugänglichkeit, die Eindeutigkeit und Verständlichkeit wurden ein Problem. Cyberspace kann nicht nur alles umfassender und schneller aufnehmen. Es wird nicht mehr nötig sein, jede Wahrnehmung in Sprache zu übersetzen, weil sich die Wahrnehmung selbst speichern läßt. In welcher Richtung es unser Denken dann beeinflussen wird, darüber kann man nur spekulieren.

Dann spekulier doch mal.

Es gibt da eine These über die Frühformen des Erkennens. Mit der Schrift hat demnach ein funktionaler Wechsel von der rechten zur linken Gehirnhälfte stattgefunden habe. Oder umgekehrt. Ich kann mir leider nicht immer merken, welche Hälfte für was verantwortlich ist, jedenfalls hat das rationale Denken seinen biologischen Standort gewechselt. Ich kann mir vorstellen, daß Cyberspace etwas Ähnliches bewirkt, bestimmte Bereiche des rationalen Denkens abnimmt, neu aufteilt. Die menschliche Sprache besteht aus 60 Phonemen. Es wäre möglich, daß sich im Cyberspace irgendwann Zeichensysteme herausbilden, die weltweit verstanden werden. Das müssen irgendwelche akustisch-optisch-emotionalen Symbole sein.

Reichen sich alle Erdenkinder im virtuellen Raum die Hände? Nein, man darf das nicht überschätzen. Das globale Zeitalter hat schließlich mit der Fähigkeit zum kollektiven Selbstmord begonnen, der Atombombe. Aber eine Chance zur Kommunikation bietet Cyberspace auf jeden Fall. Außerdem kann es sein, daß es zu einem Wettbewerb der materiellen und der virtuellen Realität kommt. Es muß nicht jeder zum Junkie werden wie in Kathryn Bigelows Strange Days ,der in der nächsten Cybernight läuft.

Kann man sich im Cyberspace etwas noch nie Vorgestelltes vorstellen? Ja, klar. Früher konnte man sich nicht ausmalen, daß außerirdisches Leben ganz anders als irdisches sein könnte. Man glaubte, ohne Wasser, ohne Kohlenstoffverbindung könne es keine Lebensform geben. Doch warum sollte anderes Leben nicht einfach aus energetischen Feldern bestehen. Wenn sich die Gehirnhälften umfunktionieren, läßt sich vielleicht in ganz anderen Dimensionen imaginieren. Wie stirbt man wohl virtuell ? Das ist auch spannend. Letztlich bleibt Cyberspace eine Glaubensfrage. Ich bin überzeugt, ich glaube daran. Ebenso glaub ich, daß mit den Computern eine neue Evolution einsetzt.

Du glaubst an die Fortpflanzung der Computer?

Warum nicht? Irgendwann wird es eine eigene Existenzform sein, die eben aus Siliciummasse besteht. Menschen haben eine Komplexität erreicht, die kaum noch überboten werden kann. Da muß also etwas Neues kommen. Ob wir davor Angst haben müssen, liegt an uns und dem, was wir an Programmen eingeben.

„Strange Days“ spielt mit der Angst vor Cyberspace. Es geht um ein Gerät, mit dem man menschliches Erleben komplett aufzeichnen kann. Du kannst in ein anderes Leben schlüpfen, eine Möglichkeit, die in dem Film wie eine Droge behandelt wird. Dieser Identitätswechsel ist faszinierend. Ein Mann, der sich zärtlich streichelt, erlebt sich selbst als 18jähriges Mädchen unter der Dusche. Strange Days thematisiert auch die Vernetzung der Gehirne. In der nächsten Cybernight soll es außerdem eine Cybersexvorführung übers Internet geben. Braucht man dafür nicht diesen häßlichen Anzug? Nein, für mich ist das chatten im Internet viel sinnlicher. Das ist purer Geist, Phantasie. Da bin ich ganz Virtuella, die perfekte, scharfe Frau. Als Transe ist man in das eigene Spiegelbild verliebt und darin, zu sehen, jemand ist scharf auf mich als Frau. Und das geht wunderbar übers Internet. Ich zeig dir das mal.

(Virtuella tippt „Virtuella“ in die Gästeliste der latex-bondage-sex-online ein und ruft Teilnehmer „Beelzebub“ an). Virtuella: „Wie ist es in der Hölle?“ Beelzebub: „Hot, hot, hot.“

Fragen: Birgit Glombitza Cybernight: Fr, 10. Januar, 22.45 Uhr, Alabama