Gründervater der Wissenssoziologie

■ Was denkt die freischwebende Intelligenz? Vor 50 Jahren starb der Soziologe Karl Mannheim. Er war Liberalisten wie Marxisten gleichermaßen verdächtig

„Die neue Soziologie in Deutschland entsteht in einer Stunde, in der die Wirtschaft zur Weltwirtschaft sich weitet, Nationen und Länder werden dadurch einander näher gebracht, aber auch entgegengestellt. Der Okzident dringt in den Orient ein, um ihn endgültig in seiner althergebrachten Form zu zersetzen. Was aber gleichzeitig damit fraglich wird, ist die eigene Position.“

Mit dieser diagnostischen Zuspitzung begann Karl Mannheim 1926 seine Antrittsvorlesung an der Heidelberger Universität. Der damals 33jährige Soziologe startete ein neues Projekt: eine Soziologie, die Denkstile analysiert und dazu soziale Standortfragen aufsucht. Ihr Name: „Wissenssoziologie“, ein interessantes Krisengewächs der zwanziger Jahre.

Der in Budapest geborene Jude Mannheim wollte die Soziologie in den Rang einer Zentralwissenschaft heben, die Zeitdiagnosen und zugleich Orientierungswissen liefert. Ein wahrlich hoher Anspruch. Ein weiterer Grund für die Heftigkeit, mit der Mannheims Soziologie angegriffen wurde, lag in der eigenartigen Zwitterstellung der Wissenssoziologie.

Für Kulturwissenschaftler, die bislang reine Ideengeschichte betrieben, war es verdächtig, nach den sozialen Standorten bestimmter Denkstile – sei es der Liberalismus oder der Konservatismus – zu fragen. Mannheims neuartiger Ansatz, die Mechanismen der Konkurrenz und der Konsensbildung auf geistige Strömungen zu übertragen, blieb ihnen dubios.

Für Marxisten andererseits war Mannheims Operieren mit einem wertfreien Ideologiebegriff, der nur noch soviel besagte wie „soziale Standortgebundenheit“, ein raffiniertes „ideologisches Klassenkampfinstrument“.

Wenig Anklang fand bei Marxisten die Hoffnung auf eine „freischwebende Intelligenz“ anstelle eines revolutionären Proletariats.

Der Grundgedanke: Wer nicht einer bestimmten sozialen Lage angehört, sei besser dazu geeignet, widerstreitende Positionen zu synthetisieren. Solcher Optimismus lebte nicht lange. Europas Intellektuelle gaben keinen tragfähigen Boden ab für übergreifende Kultursynthesen. Die Nazis zwangen Mannheim 1933 zur Emigration. Mit seiner Frau, der Psychologin Julia Lang, ging er nach London, wo er bis 1941 an der London School of Economics als Lecturer arbeitete. Bis zu seinem frühen Tod am 9. Januar 1947 widmete er sich der Demokratieplanung in Massengesellschaften.

Zu einer denkwürdigen Begegnung zwischen Mannheim und dem jungen Soziologen Earle Edward Eubank war es im Sommer 1934 gekommen. Dieser besuchte fast alle namhaften Soziologen, so auch das Ehepaar Mannheim am 1.Juli im Londoner Exil: Gefragt nach seiner Haltung zu Hitler, gibt Mannheim seinem Gast eine zutiefst befremdliche Antwort, die demonstriert, wie sehr Soziologen der Zwischenkriegszeit die Gefahr von rechts unterschätzten. „Wir mögen ihn. Natürlich nicht seiner Politik wegen, die uns sehr falsch vorkommt, aber aufgrund der Tatsache, daß er ein aufrichtiger, ernsthafter Mann ist, der nichts für sich selber sucht, sondern sich mit ganzem Herzen darum bemüht, eine neue Regierung aufzubauen.“ Gerd Michalek

Die wichtigsten Arbeiten von Karl Mannheim sind im Suhrkamp- Verlag in der Reihe stw veröffentlicht