Armut hinter geschönten Mauern

Für die Wohlhabenden ist die Medina von Fès zu stickig geworden, das traditionelle Handwerk verödet. Die marokkanische Königsstadt wird mit ausländischen Geldern restauriert. Doch ihre Bewohner verarmen  ■ Von Antje Bauer

Auf dem Pflaster liegen aufeinandergehäuft Tierhäute. Ein Esel mit einer hohen, schwankenden Ladung Holz auf dem Rücken stapft vorsichtig daran vorbei, das Klopfen seiner Hufe verliert sich in einer Gasse. Durch eine kleine Holztür geht es in einen Hof. Etwa ein Dutzend metertiefe Gruben sind dort in den Boden eingelassen, darin ruhen braune, rötliche und gelbliche Flüssigkeiten. Nasse Häute ragen heraus, halb aufgelöst, übelriechend. Die Luft ist getränkt mit einem intensiven, stechenden Geruch. Dies ist Schuara, einer der berühmten alten Gerbereihöfe in der Altstadt von Fès und beliebtes Touristenziel: weil die Farben in den Gruben so schön bunt sind und die Männer, die bis zur Hüfte in der Brühe stehen und Tierhäute auswaschen, so pittoresk.

In einer dunklen Ecke des Hofs wäscht in einem Brunnen ein Mann Häute im fließenden kalten Wasser. Er hat die Hosenbeine heraufgekrempelt, dünne, sehnige Beine staken heraus; an den Händen trägt er Gummihandschuhe. Einige der Gruben gehören ihm, und er arbeitet hier schon seit 45 Jahren, auf immer dieselbe Weise: Die ungegerbten Häute werden zunächst in eine Lauge gelegt, die aus Kalk, Natrium, Schwefel und Kleie besteht, hinzu kommt vergorener Taubenkot. Früher sammelten die Gerberkinder den Taubenkot selber. Gab es davon nicht genug, wurden auch mal menschliche Exkremente vergoren. Heute verkaufen ambulante Händler die Taubenprodukte. Lange dürfen die Häute nicht darin liegen, sonst löst die Gerbsäure nicht nur die Haare von der Haut, sondern zersetzt diese gleich noch mit. Im Anschluß an das Gerben werden die Häute in Färbeflüssigkeiten gelegt, die in den Gruben warten: die Rinde von Granatapfelbäumen für die sattgelbe Farbe der typischen marokkanischen Pantoffeln, Feigen zur Fleckentfernung. Schließlich werden sie unter fließend Wasser ausgewaschen und an den Mauern des Gebäudes, das den Hof umgibt, zum Trocknen aufgehängt. In einem dunklen, engen Raum schabt ein Arbeiter mit einem Eisen die getrockneten Häute weich. „Stark wir ein Gerber“, sagt man in Marokko.

Als Kind schon hat der dünne, zähe Mann mit dieser Arbeit begonnen. Schule war Luxus. Tagaus, tagein mit Beinen und Händen in der Lauge, in der Farbe, im kalten Wasser. „Rheuma bekommt man davon“, sagt er. „Und Hautausschläge. Und viele werden im Alter blind.“ Dennoch ist der Gerber stolz auf seinen Beruf. Er sei gesund, versichert er. Die Kälte mache ihm nichts aus. Aber wenn er Söhne hätte, würde er sie dennoch lieber etwas anderes lernen lassen. „Man bleibt arm. Früher war das Gerberhandwerk eine Goldgrube. Heute ist es nichts mehr wert.“

Das Früher, das der Gerber anführt, begann vor etwa tausend Jahren und endete vor gar nicht langer Zeit. Im Jahre 793 war Fès gegründet worden und hatte sich bald zu einer blühenden Stadt entwickelt. Die Gegend war reich an Wasser: Das Oued Fès, das Flußbett, erhielt Zuflüsse aus dem nahe gelegenen Mittleren Atlas und führte deshalb auch im Sommer Wasser, wenn alle anderen Wadis nichts als ausgetrocknete Hohlwege sind. Zusätzlich sprudelten an vielen Orten Quellen aus dem Boden – ein Segen in einem trockenen Land. Dieser Wasserreichtum begünstigte die Entstehung zahlreicher Handwerksbetriebe, Fès entwickelte sich bald zu einem wichtigen Markt. Im 12. Jahrhundert hatte Fès bereits 125.000 Einwohner und wies 309 Webereien auf, 86 Gerbereien, 116 Tuchfärbereien und 400 Papierfabriken, deren Produkte bis nach Europa exportiert wurden. Selbst eine kostenlose Armenspeisung und ein Irrenhaus konnte sich die Stadt leisten. Im 13. Jahrhundert, als im christlichen Abendland noch aller Müll einschließlich der Exkremente auf die Straße geworfen wurde, erhielt die Stadt ein Kanalisationssystem, von dem jeder Umweltschützer träumen würde. Durch ein Leitungssystem wurden die Haushalte mit Nutzwasser versorgt. Ihr Trinkwasser bezogen die Fassis aus Quellen. Durch ein zweites Leitungssystem wurden die Abwässer abgeleitet und außerhalb der Stadt in den Fluß Sebou geführt.

Die Meriniden, die im 13. Jahrhundert hier lebten, würden sich in der Altstadt wohl immer noch gut zurechtfinden. Die meisten Häuschen und Paläste, die Ladengewölbe und Gassen stammen noch aus ihrer Zeit. In der Talaat al-Kabir, einer der beiden Hauptschlagadern der Medina, passen bequem zwei Mulis samt Treibern nebeneinander, aber keine Autos. Unter Bastmatten und Tüchern, die zum Schutz vor der Sonne über die Gassen gespannt sind, schiebt sich von früh bis spät eine Menschenmenge an den Tischen mit abgezogenen Hammelköpfen vorbei, an den Ständen der Dattel- und Helvaverkäufer, an den duftenden Gewürzlädchen. Das Herz der Stadt sind noch immer die alte Kairaouin- Moschee und der Grabbau des Stadtgründers Moulay Idriss, Anziehungspunkt für Bettler, Verkäufer von Votivkerzen, Touristen und Pilger. Anders als in der Neustadt, der Ville Nouvelle, tragen in der Medina nur wenige Frauen Jeans oder kurze Röcke, hier wird die Dschellaba mit der langen Kapuze vorgezogen – wie die meisten arabischen Altstädte ist auch diese konservativ.

Auch wenn die Zeit an ihr vorübergegangen zu sein scheint, hat die Altstadt von Fès in diesem Jahrhundert dennoch eine tiefgreifende Veränderung erlebt – auf allen Ebenen. Im Jahre 1912 war Rabat zur Hauptstadt erklärt worden, Fès hatte an Bedeutung verloren. Viele Fassis folgten den Politikern nach Rabat oder zogen in die rasch wachsende Geschäftsstadt Casablanca. Die Wohlhabenden unter den Altstadtbewohnern bauten sich ein Haus in der Ville Nouvelle, denn die Medina war eng und stickig geworden. Die Paläste, die sie bewohnt hatten, blieben der Obhut eines Wächters überlassen, der sie allenfalls vor Dieben, nicht jedoch vor dem Verfall schützte.

Zogen einige wenige aus, so zogen andere, viele, zu. Nach immer wiederkehrenden Jahren der Dürre, die die Ernte zerstörte und die Armut vertiefte, kehrten in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr marokkanische Bauern ihren Dörfern den Rücken und zogen in die Städte. Sie suchten Familienangehörige auf, man rückte zusammen und schlug sich durch – so auch in Fès. Die Einwohnerzahl in der Altstadt verdoppelte sich in den vergangenen 30 Jahren auf fast 300.000. Lebte früher eine Großfamilie in einem einzigen Haus gemeinsam, so sind es heute bis zu 25 Familien, die sich sanitäre Anlagen und einen Innenhof teilen. Der schön gekachelte Innenhof, der traditionell zu jedem marokkanischen Haus gehört, dient als Empfangshalle und Zentrum des Familienlebens. Heute sind manche dieser „Patios“ in der Medina durch Decken und Pappkartons abgeteilt, hinter denen eine weitere Familie haust – eine Slumhütte inmitten von Mosaiken.

Arbeit war rar und die Neuzugezogenen arm. In der Altstadt brachen Dächer ein und wurden nicht repariert, Regenwasser sickerte in Häuserwände, bis diese einstürzten. In den Trümmern verlassener Gebäude spielten Kinder. Abfall wurde dort abgeladen. Er diente Ratten und Schlangen zum Fraß.

Während immer mehr Menschen auf begrenztem Raum ihr Auskommen suchten, verlor das, was sie konnten, zunehmend an Wert. Aus Europa und Asien wurden Massenartikel nach Marokko importiert. Die Jugendlichen wollen Reebok-Schuhe tragen und keine Ware made in Morocco; und die jungen Damen lassen für die Haarpflege zunehmend den Rassoul, die althergebrachte Lavaerde, und das Henna links liegen und nehmen lieber Shampoo und chemische Haarfärbemittel. Mit wenigen Ausnahmen wie Teppiche, Schreinerarbeiten oder Schmuck werden die Produkte der örtlichen Handwerker heute hauptsächlich von denen gekauft, die sich europäische Artikel nicht leisten können: den armen Stadtbewohnern und den Bauern, die hierher zum Einkauf kommen. Mit dem Ansehen der Ware sind aber auch die Preise gesunken, das wirtschaftliche Gefüge in der Medina ist in einer Krise. „Die Leute in der Medina haben einfache Berufe, die früher etwas galten, aber jetzt nicht mehr“, sagt sorgenvoll Abdelmajid el-Kohen, Bürgermeister der Altstadt. „Die Leute leben genauso wie früher: Sie können den heutigen Lebensstandard nicht erreichen.“

Manche Handwerker reagierten auf den Kundenschwund. Einige begannen, hauptsächlich für

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Touristen zu arbeiten – die berühmten Töpfereien von Fès etwa stellen inzwischen in der Hauptsache Geschirr zu Dekorationszwecken her, das in der Altstadt an Touristen verkauft wird. In den Haushalten benutzt man unterdessen Fabrikware. Auch die Gerber mußten feststellen, daß die Nachfrage sank, denn Lederartikel aus Europa sind feiner und geruchsneutral, während sich die mit den alten Methoden hergestellten Häute nur für Pantoffeln, Puffs und ähnliche grobe Dinge eignen und auch im fertigen Zustand noch nach ihrem ursprünglichen Bewohner riechen. So stellten immer mehr Handwerker in den vergangenen Jahren ihre Produktionsweise um: Statt rein biologischer Produkte wie früher verwendeten nun viele chemische Mittel, um qualitativ bessere Ware herstellen zu können. Ihre Abwässer flossen jedoch, ebenso wie früher, ungefiltert in die Kanalisation.

Dadurch entstand ein neues Problem: das der Gewässerverschmutzung. Denn der Fluß Sebou nahm zwar schon immer alles auf, was die Häuser der Medina an Müll erzeugten, doch bislang hatte es sich dabei um Naturprodukte gehandelt. Nun aber ergießen sich nicht nur Industrieabwässer in den Fluß, sondern darüber hinaus all das, was die Moderne in die Haushalte der Medina gebracht hat: Plastiktüten, Kunststoffe und chemische Reinigungsmittel. Durch jahrelange Dürre zu einem dünnen Rinnsal vertrocknet, bietet der Sebou einen erbarmungswürdigen Anblick: Unter der Brücke, die die beiden Stadtviertel von Fès el-Bali verbindet, fließt eine rötlich- braune Brühe hinab, die zum Himmel stinkt. Das betonierte Ufer ist überall mit Plastiktüten, Stoffresten, Aas und sonstigem undefinierbarem Unrat garniert, über den nur hier und da ein widerstandsfähiger Oleander gnädig sein Äste breitet.

Das alte Leitungssystem liegt weitgehend trocken. Die meisten Brunnen sind zugemauert, am Stadttor Bab Boujeloud ist noch die Verteilerstation zu besichtigen – verstaubt und unbenutzt. Ihr Wasser erhält die Stadt heute großenteils aus den Leitungen des örtlichen Wasserwerks, das freilich Nutz- und Trinkwasser nicht trennt, wie die Vorfahren das so weise getan hatten. Auch am Kanalisationssystem nagt der Zahn der Zeit. Im 13. Jahrhundert sind die Leitungen gebaut worden, nun werden sie langsam spröde. Zwar streiten die offiziellen Stellen das vehement ab, aber in Fès wird hartnäckig behauptet, es gebe immer wieder Lecks, durch die Wasser aus der Kanalisation in die Trinkwasserleitungen gerät. Auf jeden Fall wird dort dringend angeraten, Trinkwasser in Flaschen zu kaufen.

Der Verfall der Altstadt von Fès ging lange unbemerkt vonstatten. Doch 1980 wurde Fès von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt und eine Kampagne für den Erhalt der Medina eingeleitet. Zunächst dümpelte das Projekt vor sich hin, doch in den letzten Jahren wurde etwas unternommen.

So entstand eine Organisation, die Ader, Agentur für Wiederaufbau und Bevölkerungsentflechtung, die sich mit den unterschiedlichen Problemen der Medina befaßt. Fouad Serrhini, der junge Projektchef der Organisation, ist in ein teures Stöffchen gekleidet und spricht akzentfrei französisch. Zielsetzung der Ader sei es, die Altstadt umfassend wieder instand zu setzen. Dazu gehören sowohl Umweltschutzmaßnahmen, Renovierungsarbeiten als auch ein Versuch der Restrukturierung der Bevölkerung. „Viele leben in der Medina, weil die Ville Nouvelle zu teuer ist. In der Medina können sie für umgerechnet 60 bis 100 Mark ein Zimmer mieten und darin mit der ganzen Familie leben. Aber in diesen Zimmern gibt es keine Küche und keine Toiletten. Die Toiletten sind gemeinschaftlich, und gekocht wird im Flur oder im Patio“, führt er aus. Seine Organisation möchte Mieter dazu bewegen, ihren Wohnraum zu kaufen, und Eigentümer eines einzigen Raums überzeugen, einen zweiten Raum dazuzukaufen, damit sie Eigentümer einer ganzen Etage werden. „Es geht darum, das Eigentum, das in den vergangenen Jahren immer mehr zerstückelt wurde, wieder zusammenzusetzen, damit die sozialen Strukturen verbessert werden“, versichert Serrhini. Des weiteren versucht die Ader, den Verfall der Bausubstanz zu stoppen. So werden an einsturzgefährdeten Häusern Reparaturarbeiten durchgeführt.

In der Medina ist eine rege Restaurationstätigkeit nicht zu übersehen. Am Najjarin-Platz wird der berühmte mosaikbesetzte Brunnen instand gesetzt. Die ehemalige Karawanserei daneben ist bereits fertig, Schnitzereien und Verzierungen glänzen wieder und riechen nach Lack. Nach Möglichkeit versucht man, bei der Restaurierung auf die althergebrachten Bautechniken zurückzugreifen. Dafür wurden die alten Baumeister gesucht, von denen es nicht mehr viele gab. Nachwuchsmaurer lernten wieder, mit Stein und Gips, Holz und Ziegeln zu arbeiten. Doch den Nutzen daraus ziehen hauptsächlich die repräsentativen Gebäude: Hotels und Moscheen, ehemalige Paläste und Regierungsbauten. Private Geldgeber und Staatsoberhäupter haben viel Geld zur Restaurierung von Gebäuden ausgegeben, deren Ruinen nur noch fußhoch standen. Nach offiziellen Angaben sind mehr als 1.200 Häuser einsturzgefährdet, doch erst bei 80 wurde mit der Restaurierung begonnen. Der Ader liege der Erhalt der Wohnhäuser mehr am Herzen, beteuert Serrhini, aber die Mäzene würden eben lieber Prestigebauten restaurieren lassen als ganz normale Häuser...

Im städtischen Wasser- und Elektrizitätswerk spricht man, wie bei allen Behörden, lieber über Pläne, Projekte und Fortschritte als über Probleme und Versäumnisse. Doch da das Sanierungsprojekt von ausländischen Gebern bezahlt wird und man deshalb den Schaden nicht herunterreden sollte, zählt Saad Zéroualy, der Chef der Kanalisationsabteilung, schließlich doch einige Probleme auf. „Die Industrieabfälle, die in den Sebou-Fluß geleitet werden, stammen zum einen aus den Olivenölfabriken. Die leiten Ölhefe ab, die nach dem Waschen der Oliven anfällt. Das ist eine saure, schwarze Flüssigkeit. In der Zeit der Olivenverarbeitung, von Oktober bis Februar, ist das Wasser des Sebou deshalb tot. Dazu kommen die Abwässer der Gerbereien, die zum Teil auch industrialisiert sind. Die geben Chrom ab, Arsen und Schwermetalle. Täglich werden etwa 350 Kilogramm Chrom direkt in den Sebou geleitet. Dann gibt es die Kupferverarbeiter, die Enthäuter, die die Wolle von der Haut abziehen, die leiten Arsen usw. ab. Dann die Färber...“

Seit Beginn der 90er Jahre versucht man, mit Geldern der Weltbank oder der französischen Entwicklungskasse die Wasserverschmutzung zu verringern. So soll in den nächsten Jahren das gesamte Kanalisationsnetz erneuert werden. Die öffentlichen Brunnen, aus denen bislang das Trinkwasser sprudelte, werden nach und nach trockengelegt und alle Haushalte mit neuen Wasserleitungen versorgt. Auch für die Entgiftung des Sebou gibt es hochfliegende Pläne. So soll die Ölhefe, die das Wasser vier Monate im Jahr völlig absterben läßt, in Zukunft getrennt gesammelt werden. Außerhalb der Stadt sollen eine Kläranlage und Rieselfelder angelegt werden. Und die Handwerker, die mit Maschinen arbeiten, sowie die Gerbereien, die Chrom verwenden, sollen die Medina verlassen und sich in einem Areal außerhalb der Stadt ansiedeln.

Die Versuche, die Altstadt wiederherzurichten, stößt bei der Bevölkerung nicht immer auf Gegenliebe. So wird etwa die altehrwürdige rote Stadtmauer nun restauriert, die die gesamte Medina umschließt. An manchen Stellen führt aus Häuschen, die an die Stadtmauer gebaut wurden, durch ein selbstgeklopftes Loch eine dünne Leitung nach draußen, und wenn der Polier nicht aufpaßt, bekommt er unverhofft einen Schwall Urin ab. Die Restauration durchzusetzen hieße, das Häuschen zwangsweise an die Kanalisation anzuschließen, mit den entsprechenden Kosten für die Bewohner. Diese sehen in den Erneuerungsarbeiten insofern nur Nachteile. Erhöhte Kosten, verstärkte Kontrolle, aber keine Auswege aus ihrer Misere. Die Färber arbeiten weiterhin in winzigen Häusern neben dem Sebou-Fluß, barfuß viele und ohne Handschuhe; die farbige Brühe fließt in den Fluß auf der einen und bis auf die Gasse auf der anderen Seite und vermischt sich dort mit den Metallspänen der benachbarten Maschinenwerkstätte, mit Stoffresten und Eselskot... Die Stickerinnen und die Teppichweberinnen verrichten weiterhin zu Hause oder in Werkstätten bei Funzellicht Feinarbeit, für einen Hungerlohn und selbstverständlich ohne Krankenversicherung.

Der Staat ist nicht völlig abwesend. Schwangere Frauen können sich in den ambulanten Gesundheitszentren der Altstadt umsonst behandeln lassen, auch ein Krankenhaus ist in der Nähe. Kinder und werdende Mütter werden geimpft, auch Familienplanung wird dort durchgeführt. Um den allgegenwärtigen Koranschulen Konkurrenz zu machen, sollen zusätzliche Schulen in der Medina eingerichtet werden. Doch an den Lebensbedingungen ändert das nicht viel. Noch immer besuchen die Kinder der Armen nur ein paar Jahre lang die Schule und müssen dann in Gerbereien, Färbereien oder als Zuträger von anderen Handwerkern arbeiten. Sie lernen ein Handwerk, das aus dem Mittelalter stammt und kaum noch zu brauchen ist und keine Zukunftsperspektiven eröffnet. Wenn sie erwachsen sind, halbe Analphabeten, ohne Kapital und ohne Kenntnisse, gibt keine Bank ihnen Kredite, so daß sie weiter armselige Arbeiten verrichten müssen – Armut, die Armut gebiert.

Schon jetzt lebt nach offiziellen Angaben ein Fünftel der Bevölkerung der Medina von Fès unter der Armutsgrenze – eine Armutsgrenze, gemessen am Lebensstandard des armen Landes Marokko, nicht an unseren Maßstäben. Was wird aus einer der größten und schönsten Altstädte der arabischen Welt, wenn ihre Steine wiederhergerichtet werden, aber ihre Einwohner weiter verarmen? Auf diese Frage wußten all die Planer und Bürokraten keine Antwort.