Von Ghettobriefträger zum Millionär

Niemand repräsentiert das Spektrum deutscher Geschichte so wie Ignatz Bubis. Viele würden den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden gern als Bundespräsidenten sehen. Morgen wird er 70 Jahre alt  ■ Von Anita Kugler

Ignatz Bubis ist ein Medienstar. Seine Bühne ist ganz Deutschland. Seine Botschaft lautet: Mut im Alltag und Zivilcourage. Seine Hoffnung: Möge die Vernunft sich durchsetzen, mögen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz endlich der Vergangenheit angehören. Dafür bekommt er viel Beifall. Der Bundespräsident Roman Herzog gibt morgen ihm zu Ehren im Schloß Bellevue einen großen Empfang. Ignatz Bubis, als siebtes Kind des Schiffahrtsbeamten Jehoshua Joseph Bubis in Breslau geboren, wird am Sonntag 70 Jahre alt. Seit September 1992 ist er Vorsitzender des Zentralrats der Juden – omnipräsent, unbeschädigt und unangefochten, obwohl er gerne erzählt, daß auf einen Juden drei Meinungen kommen.

Wie kommt es, daß Ignatz Bubis fast alle mögen, den Menschen wie den Politiker gleichermaßen? Obwohl er nicht nur Sprecher der Juden, sondern auch FDP-Mitglied ist und diese Partei als Spitzenkandidat bei den hessischen Kommunalwahlen im März wieder in den Römer führen möchte. Warum nimmt man ihm nicht übel, daß er als Parteipolitiker von der Reputation, die er als Verbandsvorsitzender genießt, profitieren wird? Ist es sein Charme, sein Witz, seine Weltoffenheit, seine Begabung, meistens die richtigen Dinge zur richtigen Zeit zu sagen?

Als Geschäfsmann und Privatperson agierte er früher leidenschaftlicher. So 1985, als er mit anderen Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde durch eine Bühnenbesetzung die Aufführung von Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ verhinderte. Oder 1988, als Helmut Kohl mit Ronald Reagan über die Gräber von Bitburg spazierte. Heinz Galinski war es, der sich für Bubis Empörung – „Tollpatschigkeit, mangelndes Gespühr, Unsensibilität“ – beim Bundeskanzler entschuldigte. Als Politiker hat er die Fähigkeit gelernt, ruhig zu bleiben, die Worte abzuwägen, auch wenn die Zeiten unruhig sind. So wie damals, kurz nach seinem Amtsantritt, als Brandsätze ins Asylbewerberheim in Rostock- Lichtenhagen geschleudert und die Jüdische Baracke in der Gedenkstätte Sachsenhausen abgefackelt wurden. „Was wir hier erleben, ist nicht das Gleiche wie 1933 oder 1942“, sagte er. 1942 wurde sein Vater in Treblinka verbrannt.

Ist es möglich, daß die Sympathie, die ihm entgegengebracht wird, daran liegt, daß er so ganz anders ist als sein Vorgänger Heinz Galinski, der die Bitternis von Auschwitz im Herzen trug und sie überdeutlich zeigte? Ist man Bubis dafür dankbar, daß man dem höchsten jüdischen Repräsentanten in Deutschland begegnen kann, ohne sich in Schuld zu winden? Obwohl er ebenfalls mehrere Konzentrationslager durchlitten hat, fast alle Verwandten ermordet wurden? Oder hat die Mehrheit der Deutschen, haben ihre Politiker endlich begriffen, was sie in der langen Galinski-Ära nicht begreifen konnten oder wollten: daß es die Aufgabe der Täter ist, an ihre eigene Schuld zu erinnern, und nicht die der Opfer.

Oder ist die offene Bewunderung für Bubis vielleicht damit zu erklären, daß er, ganz anders als Galinski, die Wirtschaftswunderjahre zu nutzen wußte? Nicht als einer, der die „Wiedergutmachung“ nur forderte, sondern der sie sich selbst holte. Als Schwarzmarkt-, Edelstein- und später als Immobilienhändler. Die Linke nimmt ihm diese Vergangenheit schon längst nicht mehr übel. Im Gegenteil. Joschka Fischer entschuldigte sich neulich, daß er Bubis in den wilden Hausbesetzerjahren in Frankfurt als „Spekulant“ bezeichnet hatte. Und andere Linke würden ihn gerne als Bundespräsidenten sehen, denn niemand repräsentiere so wie Bubis das gesamte Spektrum deutscher Geschichte: vom Ghettobriefträger zum Millionär.

Bei einem solchen Leben, bei dem die Kindheit gestohlen und das Erwachsenenleben ein einziger Kampf war, bekommt man Hornhaut auf den Ellbogen. Bubis hat sie, und bei innerjüdischen Konflikten benutzt er sie auch. Da unterscheidet er sehr zwischen „drinnen“ und „draußen“, und er tut viel dafür, daß Unappetitlichkeiten, wie derzeit die Grundstücksgeschäfte zweier prominenter Mitglieder der Berliner Jüdischen Gemeinde, vor einem internen Schiedsgericht geklärt werden und nicht in der Presse.

Bubis ist orthodox im Sinne von jüdischer Tradition. Aber er ist weder strenggläubig, geschweige denn dogmatisch. Fundamentalisten, gleich welcher Couleur, sind ihm zuwider. Die Speisegesetze bricht er oft, und den Sabbath heiligt er durch Arbeit, bekannte er mehr als einmal. Für die Nichtjuden

hingegen ist er ein Glücksfall. Wenn es einen Verbandsfunktionär gibt, der den Deutschen beibringt, daß Israel nicht die Heimat aller Juden ist, dann er. „Ich bin ein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, sagt er.

Das ist ein wichtiger Satz, denn solange immer wieder und sogar Politiker den deutschen Juden Bubis nach seiner „israelischen Heimat“ fragen, ist jüdisches Leben in Deutschland nicht selbstverständlich. Ignatz Bubis, schrieb Micha Brumlik vor Jahren in dieser Zeitung, hat mehr für die Verteidigung jüdischer Würde und zur Aufklärung wider den Antisemitismus getan „als ganze Kohorten von Leitartiklern, wohlmeinenden Schulbuch-Lektoren und christlich-jüdischen Feiertagsrednern“.

Ihm gelingt, was Heinz Galinski nicht gelungen ist, nämlich Juden und Nichtjuden in ein angstfreies Gespräch zu verwickeln. Typisch dafür die Szene kürzlich in einem Gymnasium in Leipzig. Eine Lehrerin fragt, ob Bubis wisse, wieviel Entschädigung den Juden weltweit gezahlt worden sei. Ohne mit der Wimper zu zucken, antwortet er: „95.694.738.449 Mark.“ Nach einer Kunstpause ergänzt er trocken: „Das ist etwas weniger als ein Jahr deutsche Einheit, die kostet nämlich 110 Millarden.“ Solche Gespräche nach deutscher Schuld hat Bubis abertausendfach geführt. „Nicht der Schlußstrich ist das Hauptproblem“, sagt er dann, „sondern wie, wer und warum ihn fordert.“