: Gefrorene Bildergeschichten
■ Der Kunst die Kunst exemplarisch austreiben: In Nürnberg wird das Frühwerk von Jochen Gerz als „French Wall“ gezeigt
Jochen Gerz lebte seit zwei Jahren in Frankreich, als er ein künstlerisches Tagebuch begann. Das war 1968. Zwar sagt Gerz von sich, daß er „vom Schreiben kommt“. Mit alltäglichen oder persönlichen Notizen hat sein „Tagebuch“ jedoch nichts zu tun; auch die Datierungen sind ziemlich ungenau und schwanken. Nach sieben Jahren schloß er sein Diarium ab und wandte sich anderen Formen der Erinnerungsarbeit zu, bis hin zu der versenkbaren Säule in Hamburg als „Monument gegen den Faschismus“ oder der „Bremer Befragung“. Zurückblieben 88 einzelne Arbeiten als Dokumentation von Gerz' künstlerischer Entwicklung in den Jahren von 1968 bis 1975. Ein Teil von ihnen wurde bereits 1975 unter dem Titel „The French Wall“ ausgestellt. Erstmals führt eine Wanderausstellung, die in Nürnberg beginnt und über Düsseldorf bis nach St. Etienne führt, fast alle Objekte der Serie zusammen. Sie ist löblicherweise in dem ausgezeichneten Katalogbuch vollständig dokumentiert.
„French Wall“ bezeichnet die barocke Hängung von Gemälden in Galerien: Rahmen an Rahmen, die Wand bis unter die Decke zugepflastert. In Nürnberg sind die Exponate in genau dieser französischen Hängung zu sehen. Die 88 Objekte ergeben eine Miniaturgalerie der Jahre um 1970. Gerz setzt sich mit der Kunstszene auseinander und formuliert immer wieder eigene Positionen. „The French Wall“ dokumentiert somit Avantgardezeitgeist ebenso wie die Arbeit des Künstlers an einem eigenen Programm. Gerz ist in dieser Zeit stark vom Fluxus beeinflußt. Spurensicherung, Materialexperimente und Wortspiele bis hin zum Kalauer sind die Utensilien, die Gerz dazu dienen, „der Kunst die Kunst auszutreiben“.
Etwas überproportioniert wirkt im Rückblick die permanente Befragung des Künstlerbildes. Einige Arbeiten erinnern an Selbstinszenierungen von Klauke, Rinke und Lüthi. Mit Beuys bezweifelt er die Exklusivität des Künstlers und fragt „If I am the artist, who then are you“ (1974). Ein zwölfjähriger Schüler nahm 1975 diese Frage ernst und behauptete, so was wie „The French Wall“ könne er auch, worauf Gerz ihm antwortete: „Was wäre daran so verkehrt?“
Wie ein Schmetterlingsammler, der für jedes Exemplar ein Kästchen in der angemessenen Größe baut, fertigte Gerz für jede Arbeit einen Rahmen aus Weichholz an. In den vergangenen 20 Jahren alterten die Materialien so sehr, daß das Ganze allmählich in jenem entropischen Braunton verschmilzt, der Archivare und andere Papierfetischisten unwiderstehlich anzieht. Mit dieser Wandlung hat Gerz seinerzeit vermutlich selbst nicht gerechnet, sie paßt aber gut zum Charakter des Werkes.
Interessant ist nachzuerleben, wie Gerz Kunst nach Art empirischer Physik betreibt. Er friert das hingepinselte Wort „Revolution“ ein Jahr lang ein und läßt es auftauen. Er beschreibt ein Fotopapier – wenn das Blatt der lichtdichten Hülle entnommen wird, wird der Text unlesbar, keine Chance also, jemals das Geschriebene zu lesen. Den mit „The French Wall“ beschrittenen Weg verließ Jochen Gerz bis heute nicht. Leitmotive blieben Text-Bild-Kombinationen, verborgene Kunstwerke und Erinnerungsobjekte.
Der Pariser Mai 1968 hatte Gerz stark beeinflußt; vor allem in den ersten Arbeiten wird spürbar, daß der Bruch ästhetischer Konventionen durch Gerz auch politisch begründet war. Im Rückblick erscheint dieser politische Ansatz ebenso spannend wie der experimentelle. Als vorweggenommene Antwort auf das postmoderne Simulationstheater der achtziger Jahre stellte Gerz 1969 die Diskussion auf die Füße: „Der Unterschied zwischen Politik & Kunst ist der: Während man vor seinem TV noch davon ausgehen kann, daß Vietnam nicht nur Bilder auf dem Schirm sind, sondern daß Vietnam existiert, führt nichts über das hinaus in der Kunst & Literatur, dem in der Politik der TV entspricht...“ Man ist immer zwischen Bildern und Büchern. Christoph Danelzik-Brüggemann
Jochen Gerz: „The French Wall“. Zu sehen bis 2. Februar 1997 im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg; 28. Februar bis 13. April im 1997 Kunstmuseum Düsseldorf; 18. September bis 23. November 1997 im Musée d'Art Moderne St. Etienne. Katalog 36 DM
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