Die Mitte – das bin ich

Nach innen mit Parteifreunden kungeln; nach außen die Festung Deutschland schützen, ohne imperialistisch zu wirken. Das sind zwei Gründe, warum Helmut Kohl seit 14 Jahren an der Macht ist. Die sieben Regeln des Systems Kohl  ■ Von Joachim Raschke

Wer vierzehn Jahre mit der Chance auf Wiederwahl regiert, muß feste Regeln haben, den Kompaß in der täglichen Pfadfinderei. Eine Opposition, die das System Kohl knacken will, muß dessen strategische Regeln kennen. Sonst hat sie keine Chance. 1. Der Parteikanzler.. Helmut Kohl ist der erste langfristig erfolgreiche Parteikanzler der Bundesrepublik. Konrad Adenauer und Helmut Schmidt benutzten ihre Partei soweit unbedingt nötig, sie waren Staatskanzler. Ludwig Erhard wollte „Volkskanzler“ sein, war auch ungewöhnlich populär und ließ sich kurz vor seinem Abgang, von oben, doch noch zum Vorsitzenden der CDU machen. Es half nichts. Als er trudelte, kam ihm niemand zu Hilfe. Brandt war polarisierender Parteikanzler wie Kohl, aber nur kurz.

Die Popularität hält sich in Grenzen für einen Parteikanzler. Das muß er nicht nur in Kauf nehmen, sondern wollen. So versichert er sich seiner Klientel, zwingt die Unentschiedenen zur Entscheidung, buhlt nicht beim Gegner um gute Stimmung, die keine Stimmen bringt.

Kohls Parteinähe beruht auf personalen, nur diffus auf ideologischen Bindungen. Er hat – mehr als Schäuble oder irgendeiner seiner CDU-Vorgänger – die Fähigkeit, Loyalitäten herzustellen und zu erhalten. Ein Fünftel seiner wöchentlichen Arbeitszeit verwendet der Kanzler auch heute noch fürs Telefonieren mit Parteifreunden: gratulieren, kungeln, kondolieren.

Die Opposition hat keinen Kandidaten, der optimal – nicht zuletzt durch Polarisierung – das eigene Milieu mobilisierte und zugleich im Grenzbereich potentieller Pendler zwischen den beiden großen Parteien attraktiv wäre. Weder ein Staats- noch ein Parteikanzler ist in Sicht.

2. FDP aus Prinzip. Nur eine Kaolitions-Präferenz zu vertreten, ist riskant im Mehrparteiensystem. Bleibt diese andere Partei erhalten, ist es aber eine große Stärke. Kohl war 1966 gegen die Große Koalition, und er hat jede Zusammenarbeit mit den Republikanern auch ausgeschlossen, als die noch stark waren. Von Phantasien, die CDU/CSU könnte die absolute Mehrheit gewinnen, ist er frei. Wegen des Erpressungspotentials der CSU will er diese Formation auch gar nicht. (Schon Adenauer ging es in der Alleinregierung nach 1957 am schlechtesten.) Damit bindet Kohl die FDP an sich. Zugleich gibt er ihr Spielraum für eigene Profilierung, Voraussetzung für den Erhalt der FDP als Mehrheitsbeschafferin der Union.

Die Opposition hingegen spricht in der Koalitionsfrage mit vielen Zungen. Sie weiß nicht, wie sie es mit der PDS halten soll, deren Abgeordnete sie 1998 wahrscheinlich in Bonn zum Regieren braucht.

3. Das politische Basisprogramm. Das politische Priorisierungsschema war immer klar. Erstens wirtschaftliches Wachstum plus Sicherheit im weitesten Sinne. Zweitens negative Integration, das heißt Einbindung über Gegner- und Feindschaft. Drittens XYZ- Themen.

Seitdem Wachstum und Vollbeschäftigung auseinanderfallen, bedarf es einer zusätzlichen Verteilungsregel. Die CDU orientiert sich an Modernisierungsgewinnern, an Möchtegerngewinnern und an den Veteranen der Industriegesellschaft, die mit diesen die Arbeitstugenden und den Wachstumsglauben, aber nicht den überschießenden Wohlstand teilen. „Sicherheit“ umfaßt zwar nicht mehr Arbeit und Wohlstand für alle, soll aber – für alle – physische und mentale Sicherheiten gewähren. Mit dem Großen Lauschangriff gegen die Organisierte Kriminalität, mit Ausländer- und Asylgesetzen gegen Fremde. Auch sonst Regeln von Sicherheit und Stärke: international Flagge zeigen, ohne Krieg zu führen; die Festung schützen, ohne imperialistisch zu wirken; Ordnungsmacht, ohne Vormacht zu sein.

Da die Mehrheit bei nüchternem Interessenkalkül der Wähler knapp wäre oder auch knapp verfehlt werden könnte, ist die Union auf integrierende Stützmittel angewiesen. Positive Integration, jenseits von Interessen, ist nicht (mehr) möglich. Das hohe C christlicher Ingredienzen hat schon lange ausgespielt, Nationalismus würde auch den eigenen Verein spalten. Bleibt „Freiheit oder Sozialismus“, heute gemütlich-aggressiv als „Rote Socken“-Kampagne daherkommend. Oder die Wiederaufrüstung des Feindbildes „Rot-Grün“. Ansonsten die verkorkst-gefährliche Generation der „68er“ als Schreckbild. Immer noch gilt in der Politik: Wohl dem, der Feinde hat.

Die XYZ-Themen sind der Bauchladen des Aktuellen und Opportunen. Mit ihnen wird nicht der Kampf, es werden nur Punkte gewonnen.

Die Opposition als Ganze hat kein vergleichares Priorisierungsschema. Nur einmal in 133 Jahren konnte die SPD mit dem Wirtschaftsthema eine Wahl gewinnen: 1969, als sie mit Keynes die bessere Theorie und mit Schiller den besseren Mann hatte. Normalerweise meinen die Menschen mit „wirtschaftlicher Kompetenz“ die Unternehmer, die – auch wenn sie mosern – mit „ihrer“ Regierung zusammenarbeiten. Der Neoliberalismus entwendet der Soziakdemokratie selbst ihr klassisches Thema: Arbeitslosigkeit, die nun nicht sozial, sondern ausschließlich ökonomisch diskutiert werden soll. In Sicherheitsfragen betreibt die Opposition nur Schadensbegrenzung. Bestimmen diese Themen die Debatte, kündigt sich ihre Niederlage an.

Die Opposition kann – viele wollen – keine Feinde definieren. Sie verfügt über kein ausstrahlendes Modernisierungsprojekt. Vor allem ist sie unsicher, wie weit das Verteilungs- und Gerechtigkeitsthema trägt. Ihr stärkster Punkt ist also gleichzeitig einer der strategischen Unsicherheiten: Viele Anhänger der bürgerlichen Koalition, die Sparmaßnahmen wie bei der Lohnfortzahlung oder im Gesundheitswesen ablehnen, sagen gleichzeitig, daß sie materiell davon nicht tangiert werden. Und viele von denen, die es deutlich spüren, gehen nicht mehr zur Wahl oder protestieren nicht mit den Sozialdemokraten.

4. Die Mitte – das bin ich.

Kohl hat immer die Mitte gesucht, zwischen FDP und CSU in der eigenen Koalition, zwischen SPD und Republikanern im Parteiensystem. „Europa“ – würde er sagen – „ist auch Mitte“ (was ja stimmt, zwischen Nationalismus und Internationalismus). Anders als Schäuble, der Mehrheit statt Mitte will, auch wenn er dafür – zeitweise – die Sprache der Neuen Rechten übernimmt, orientiert Kohl sich an dieser imaginären Zone. Wie auch immer die Mitte jeweils konkretisiert wird, führt sie weg von den Polen, benutzt gar diese zur polarisierenden Abgrenzung aus der Mitte heraus. Es hilft diesem gestaltungsschwachen Kanzler, daß er sich nicht durch Projekte ausweisen muß, sondern mit dem Trick durchkommt, sich selbst zur Mitte und die anderen zum Lager zu erklären.

Die Opposition sieht sich als „Linksbündnis“ aus der Mitte gedrängt. Ihre Antwort darauf ist unklar. Viele zählen sich selbst zur Mitte, andere wollen gerade diese bekämpfen.

5. Optimismus als Programm. Es gibt zwei Arten von Optimismus, den mutiger Problembearbeitung und den aufgrund von Problemverdrängung. Der zweite, der Optimismus des Darüberhinwegredens, ist Kohls Spezialität. Bei den Vereinigungs- wie bei den Globalisierungsfolgen wirkt solch vorsätzlicher Optimismus nicht nur als, sondern auch statt Programm.

Zukunft positiv besetzen ist seit langem eine Strategie der CDU. Zwar hilft die lustig- lärmende pfälzische Lebensart über manche Grausamkeiten des Lebens hinweg, aber man muß zum Optimismus schon entschlossen sein, will man in der Zukunft nur Chancen sehen. Darin stecken Marketing und Alltagspsychologie, vielleicht auch säkularisierte christliche Heilserwartung oder – konservativen Pessimusmus überwindende – Ausbeutung eines früher links vertretenen „Prinzips Hoffnung“. Wer ihm widerspricht, ist Miesmacher, Defätist, Opfer von Zukunftsängsten. Die Opposition denkt zukunftsorientiert, aber nicht optimistisch. Nur wo die linke Mitte fähig ist, einen eigenen Optimismus aufzubauen und vor dessen Banalität nicht zurückscheut, wie bei Bill Clinton oder Tony Blair, hat sie Chancen auf eine eigene Zukunft.

6. Die Legende vom Aussitzen Einsame Entscheidungen gibt es im Kooperations- Karussell Kohl selten. Die Bindemittel Kommunikation und Kooperation vermitteln vielen Akteuren einer verbreiterten Oligarchie das Gefühl, bei Entscheidungen dabei zu sein. Die öffentliche Meinung dagegen bleibt argumentativ unterversorgt.

Kriterien wechseln so häufig wie die Konzepte, der interne Kompromiß ist wichtiger als kommunikative Evidenz. Da die verteilungspolitischen Grundregeln unter den Beteiligten klar sind (die Gewerkschaften sind nicht mehr dabei), fragt auch niemand nach überzeugenden Argumenten. Das alles dauert lange, aber „Aussitzen“ – wir haben begriffen – ist das falsche Bild. Kohl kann entscheiden, aber nicht begründen.

Das liegt nicht nur am Interessen-Pluralismus. Kohl, immer noch der Generalist, als der er begann, ist in den meisten sachpolitischen Fragen durch feste Grundsätze nicht beschwert. Deshalb sehen politische Entscheidungen, die er mitteilt, oft so zufällig aus. Sie fallen dort, wo die Interessentenmaschinerie kurzfristig angehalten wird – und nicht dort, wo ein Programm in Politik umgesetzt worden ist.

Es gibt nur einen Bereich, in dem Kohl entscheidet, Überzeugungen und wohl auch gute Begründungen hat: die Personal-, Wahl- und Koalitionspolitik. Da man aber über Strategie öffentlich nicht redet, erfahren wir wenig davon. Es hat also Ursachen, daß Kohl – von Europa abgesehen – nicht sachpolitisch, sondern nur strategisch-machtpolitisch definiert werden kann.

Die Opposition hätte die Chance, das inhaltliche Vakuum, den Perspektivenmangel, die enge Interessenverhaftung, den Situationismus der Regierenden zu geißeln. Tut sie das ? Ist unserer Aufmerksamkeit da etwas entgangen?

7. Bekennende Normalität. Der Alltag auch der Regierenden ist mit vielen Banalitäten, Geschmacksfragen und Präsentationen gefüllt. Wie verhält man sich hier? Kohl folgt einer klaren Regel: Bleibe der, der du bist. Tatsächlich ein Mann aus dem Volk: schlecht artikuliert, unförmig, mit dem alltäglichen Autoritarismus des deutschnittlichen Deutschen. Schlank, elaboriert, kontrolliert sind die Eliten, Kohl hat sich nicht angepaßt. Vom Establishment her gesehen, ist er Außenseiter geblieben. Sein ehemaliger mehrjähriger Pressesprecher hat einmal gesagt, Kohl habe noch keine Idee geäußert, über die sich länger als zwei Minuten nachzudenken lohne. Deswegen werden andere gar nicht erst bekannt. Kohl braucht keine Demoskopie, sein Bauch ist die Sonde im Markt durchschnittlicher Meinungen.

Normalität als Habitus und als festgehaltene Regel eines täglichen Verhaltens, die politisch zur „Strategie“ wird. Seine Unerschütterlichkeit bezieht Kohl aus seiner bekennenden Normalität. Bei einem stärker intellektuellen Typus gälte sein Mangel an Anfechtungen und Selbstkritik als „elitäre Arroganz“; bei ihm ist es die Standhaftigkeit des Biedermanns im Juste-Milieu, einer, der sich die Butter nicht vom Brot nehmen läßt weder von den Kollektiven noch von den Großkopferten. Die Fleisch gewordenen Wonnen der Gewöhnlichkeit eines Mannes, der „einer von euch“ nicht erst – anbiedernd – in den Buchtitel schreiben muß.

Die Opposition ist in Versuchung, mit einem Minderheitspolitiker anzutreten, einem hedonistisch-unberechenbaren 68er- Verschnitt aus der saarländischen Peripherie. Gerhard Schröder , der Mann aus Hannover dagegen hätte habituell am ehesten etwas von Kohl, aber er wechselt Strategien wie seine Hemden und zeigt uns die Überanpassung des sozialen Aufsteigers mit der Zigarre in der Hand. Vor allem hat er einen nicht aufzuholenden Nachteil: Er ist in der falschen Partei.