■ Heute nacht läuft in Süd-Korea das Ultimatum der unabhängigen Gewerkschaften aus: Wenn die Regierung bis dahin das umstrittene Arbeitsgesetz nicht zurückzieht, kommt es zum Generalstreik. Die Stimmung in Seoul ist kämpferisch.
: "Am Mittwoc

Heute nacht läuft in Süd-Korea das Ultimatum der unabhängigen Gewerkschaften aus: Wenn die Regierung bis dahin das umstrittene Arbeitsgesetz nicht zurückzieht, kommt es zum Generalstreik. Die Stimmung in Seoul ist kämpferisch.

„Am Mittwoch ist hier der Teufel los“

Der Weg zur Myongdong-Kathedrale in Seoul sieht reichlich ramponiert aus. Herausgerissene Pflastersteine haben große Lücken hinterlassen, Feuerstellen den Boden geschwärzt. Überall liegen Essensreste herum, die niemand wegräumt. Während am Sonntag im Innern der Kirche eine Hochzeitszeremonie stattfand, demonstrierten draußen auf dem Vorplatz knapp 3.000 streikende Arbeiter gegen das neue Arbeitsgesetz Süd-Koreas. Dabei kam es zwischen Polizei und Demonstranten zu einem erneuten Zusammenstoß. Die Polizei wollte die Arbeiter an einem Protestmarsch durch die Innenstadt hindern und schoß Tränengas in die Menge. Diese wehrte sich mit Steinen und anderen Wurfgeschossen. Einige Beamte trugen nach Augenzeugenberichten Fotos der 20 Streikführer bei sich.

„Am Mittwoch ist hier in Süd- Korea der Teufel los“, sagt ein Passant. Heute um Mitternacht koreanischer Zeit läuft das Ultimatum aus, das der unabhängige und als illegal geltende Gewerkschaftsverband KCTU der Regierung gestellt hat. Wenn diese bis Dienstag 24.00 Uhr das Gesetz nicht zurückzieht, werden im ganzen Land viele industrielle und öffentliche Bereiche lahmliegen. Der zweite und offiziell anerkannte Dachverband FKTU kündigte an, seine Mitglieder würden schon am heutigen Dienstag in einen flächendeckenden Streik treten.

Zahlreiche KCTU-Führer befinden sich seit der Verabschiedung des neuen Gesetzes am 26. Dezember in einem „Sitzstreik“ auf dem Grundstück der Myongdong-Kathedrale im Zentrum Seouls. Dort haben sie drei große Zelte aufgebaut, in denen sie essen, schlafen und die nächsten Aktionen planen. „Hier genießen wir eine Art kirchliches Asyl“, meint ein KCTU-Sekretär. Einen ersten Versuch der Polizei, sieben KCTU-Funktionäre in der Kirche zu verhaften, verhinderten andere Mitglieder, indem sie mit ihren Körpern den Zugang versperrten.

Die Stimmung in den Zelten ist gespannt, aber ruhig. Passanten nehmen auf dem Weg zur Kirche von den Vorgängen kaum Notiz, sie haben sich an den Anblick der Zelte und Transparente an den Zäunen gewöhnt. Diskutierfreudige, die mit Gewerkschaftern zusammenstehen, sieht man selten. Streikende Arbeiter sitzen dafür tagsüber häufig im Schneidersitz neben den Zelten und diskutieren mit Studenten, die sich solidarisiert haben. Bei abendlichen Kundgebungen füllt sich der Platz, die Teilnehmer stimmen zu den Klängen einer Orgel und mit erhobener Faust Arbeiterlieder an und rufen zur Absetzung der Regierung auf.

Der KCTU-Vorsitzende Kwon Young Kil hält täglich vor der Kirche eine Pressekonferenz ab. Als Zeichen ihres Protests haben sich er und die anderen den Kopf kahlscheren lassen. Auf ihren roten Stirnbändern ist die Aufforderung zum Rücktritt von Präsident Kim Young Sam zu lesen. Die KCTU koordiniert von den Zelten und dem Hauptquartier ihres Verbandes aus die Aktionen. Täglich werden an verschiedenen Orten in der südkoreanischen Hauptstadt Kundgebungen organisiert, Informationsbroschüren gedruckt und flächendeckend verteilt. Bei Unterschriftenkampagnen rufen die Streikenden die Bevölkerung zur Unterstützung ihres Kampfes auf.

Die südkoreanischen Arbeiter richten ihren Protest auch gegen Kim, den ersten zivilen Präsidenten seit den sechziger Jahren, der die Gesetze gebilligt hat. „Stürzt Kim Young Sam!“ wird auf fast allen Kundgebungen gerufen. Die Bevölkerung bringt den Aktionen der Gewerkschaften durchaus Sympathie entgegen; sie fühlt sich durch das Vorgehen der Polizei an die Zeit der Militärdiktaturen erinnert. Nach Einschätzung ausländischer Beobachter ist es für westeuropäische Verhältnisse kaum vorstellbar, daß Behörden mit Tränengas gegen streikende Arbeiter vorgehen. Die Gewerkschaften kritisieren, daß das Grundrecht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit immer noch eingeschränkt ist. Auf beiden Seiten herrscht tiefes Mißtrauen.

Die Hoffnung der Regierung, die Streikwelle werde sich totlaufen, hat sich bislang nicht erfüllt. Die Gewerkschaften sind fest entschlossen, bis zum Ende zu kämpfen. Eine Initiative des Vorsitzenden der Regierungspartei NKP, Lee Hong-Koo, am Montag mit KCTU-Führer Kwon persönlich Kontakt aufzunehmen, schlug fehl. Weil die Regierung laut KCTU keine „klare Politik“ verfolge und sich nicht zur Änderung des Gesetzes entschieden habe, wurde Lee das Gespräch verweigert.

Die Myongdong-Kathedrale befindet sich auf einer gepflasterten Anhöhe inmitten eines betriebsamen und mondänen Einkaufsviertels. Die Kirche gilt den Südkoreanern als Symbol der Demokratiebewegung. Nicht erst seit gestern flüchteten hierhin politisch Verfolgte. Unter den Militärregierungen von Chun Doo Hwan und Roh Tae Woo suchten fast täglich Menschen Schutz unter katholischem Dach. Aber nicht einmal Chun und Roh wagten es, den kirchlichen Schutz mit Polizeigewalt zu verletzen. Als jedoch 1995 unter der Regierung Kim Young Sams Polizisten in die Kirche eindrangen, um streikende Arbeiter zu verhaften, gab es einen Skandal. Die Aktion wurde als Sakrileg öffentlich gebrandmarkt. Der Präsident mußte sich für das Vorgehen entschuldigen. Die katholische Kirche in Süd-Korea war neben den Studenten und Gewerkschaften schon früher ein Sprachrohr der Demokratiebewegungen, obwohl deren Angehörige eine Minderheit im Lande sind. In einer Stellungnahme der Kirche zur jetzigen Krise wurden die Konfliktparteien gedrängt, um des sozialen Friedens willen in einen Dialog zu treten. Bischof Chang Tok Pil hofft, daß die Regierung „den Irrtum, den sie 1995 begangen hat, nicht wiederholt“. Dirk Godder, Seoul