■ Debatte
: Falsche Seitenhiebe

Der eisige Wind der letzten Wochen treibt obdachlose Menschen in den Blick der Öffentlichkeit. Er löst eine Debatte aus, die auch wir vom Verein für Innere Mission für erforderlich halten. Die Debatte macht aber auch öffentlich, daß die Wahrnehmung der Realitäten Bremischer Angebote und „Erfolge“ für obdachlose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen nur ausschnitthaft oder von falschen Informationen gefärbt ist. Polemische Seitenhiebe und Profilierungsversuche können nur Vorurteile verstärken.

Die Bremer Sozialpolitik hat in der Vergangenheit eine sinnvolle Weiterentwicklung der Hilfs- und Beratungsangebote der Inneren Mission für Obdachlose gebracht. Wir sind näher dran. Die MitarbeiterInnen des Sozialzentrums der Inneren Mission erinnern sich noch gut an Nächte, in denen Obdach suchende Menschen auf den Fluren des Jakobushauses schliefen. Noch vor fünf Jahren wurde jeder Winter zur Katastrophe, auf die nur durch Container oder die Baracke am Hauptbahnhof reagiert werden konnte. Heute reichen die Notunterkünften aus.

Es zeugt jedoch von einer verengten Blickweise, wenn Frau Heide Gerstenberger in ihrem Kommentar „Obdachlose ausgebootet“ (taz vom 4.1.) der Inneren Mission und der Sozialverwaltung wie nun schon seit Jahren unterstellt, daß für diesen Personenkreis nur Notunterkünfte vorgesehen seien. Faktum ist, daß die Innere Mission trotz der Kürzungen in den öffentlichen Haushalten den Standard ihrer Angebote ausbauen und verbessern konnte. Von „Gedankenlosigkeit von Politikern und Behördenvertretern, die in geordneten materiellen Verhältnissen leben“, kann in diesem Zusammenhang keine Rede sein.

Wenn Frau Gerstenberger sich informiert hätte, und unser Gesprächsangebot besteht seit Jahren, hätte sie erfahren, daß unsere Beratungsstelle „Ambulante Hilfe“ in der Langenstraße 1996 mit 700 Klienten ca. 4.000 Bera-tungsgespräche geführt hat und ca. 20 Prozent von ihnen in Wohnungen vermitteln konnte. So setzen MitarbeiterInnen der Inneren Mission bereits die Verpflichtung zur Wohnungssuche um, wie sie Karoline Linnert in ihrem Debattenbeitrag (taz vom 9.1.) fordert. Zusätzlich begleiten, beraten oder betreuen drei MitarbeiterInnen zur Zeit 36 KlientInnen in ihren Wohnungen. Dieses ambulante Angebot wird noch weiter ausgebaut.

Im Zuge dieser „Ambulantisierung“ der Angebote der Inneren Mission haben wir die stationären Plätze im „Papageienhaus“ von 91 auf 71 reduziert. Damit wird deutlich, daß in dem System „Sozialzentrum der Inneren Mission“, dem Linnert einen Monopolcharakter unterstellt, die Konkurrenz eingebaut ist. Das halten wir für sinnvoll und notwendig. Wenn Frau Gerstenberger dem Leser aber suggeriert, daß die Innere Mission im Jakobushaus einen Zimmerpreis von 135 Mark aus der Sozialhilfe erhält, verschweigt sie, daß in diesem Pflegesatz die Kosten für die volle Versorgung (Essen, Wäsche etc.) sowie alle zusätzlichen, ergänzenden Beratungsangebote enthalten sind.

Wir sind uns mit den KritikerInnen einig, daß dies alles noch nicht ausreicht. Solange noch Menschen bei dieser Kälte auf der Straße leben müssen oder wollen, machen wir etwas falsch. Deshalb gehen wir „näher ran“.

Ein Mitarbeiter ist durch die Umwidmung einer Stelle damit beauftragt, Obdachlose auf der Straße aufzusuchen. Die Aktion, in der MitarbeiterInnen auf der Straße Suppe und heiße Getränke austeilen und damit Menschen ansprechen, auch um ihren Bedürfnissen auf die Spur zu kommen, ist Ausdruck unserer am biblischen Menschenbild orientierten diakonischen Praxis. – Jesus fragte den Blinden bei Jericho: „Was willst du, das ich dir tun soll?“

Doch sollten wir akzeptieren, daß einige obdachlose Menschen unsere Hilfsangebote nicht annehmen. Ihre Selbstverantwortung ist Teil ihrer Menschenwürde – und von Schuld (oder gar „selbst schuld“) sprechen wir hier nicht.

Natürlich, angemessene Wohnungen für alle ist nicht nur Verfassungsgebot, sondern auch ein Grundsatz, an dem sich die Humanität einer Gesellschaft messen lassen muß. Deshalb bedauern wir außerordentlich, daß die Koalitionsvereinbarung von 1991 bezüglich der Wohnungsversorgung trotz des sog. „Bremer Vertrages“ an der Praxis der Wohnungsbaugesellschaften scheitert. Alle Bemühungen gemeinsam mit Initiativen und PolitikerInnen haben leider nicht die Früchte gebracht, die 1991 beabsichtigt waren.

Die Kälte hebt Menschen, die bei besserem Klima weitgehend unbeachtet leben, ihre Rechte und Bedürfnisse und damit einen Arbeitszweig der Inneren Mission in den Blick der Öffentlichkeit. Das ist gut so. Wir haben aber Grund zur Sorge, daß die soziale Kälte hartnäckiger bleibt als die Winterkälte.

Manfred Schulken Pastor, Vorstandsvorsitzender des Vereins für Innere Mission in Bremen