: Ein wilder Bebop auf den Krieg
■ Terence Davies Neon Bible ist ein filmisches Mißtrauensvotum an das Erinnern und Erzählen
Neon Bible beginnt recht geheimnisvoll: Ein verlassen aussehender junger Mann, fast ein Kind noch, sitzt allein in einem Zug und rauscht durch die sternlose Nacht. Im weiteren Verlauf des Films bestätigt sich die erste Vermutung: David (Jacob Tierney) mußte die Stadt verlassen. Die Kamera schwenkt von seinem Gesicht auf die Fensterscheibe und zoomt, bis der Fensterrahmen den Leinwandausschnitt überschreitet: Die Scheibe wird zur Leinwand, beide werden zur Projektionsfläche für Davids Erinnerungen. Die Kamera selbst allerdings, der eigentliche Produktionsapparat, wird unterschlagen. Sie spiegelt sich nicht.
In Rückschauen erzählt der Film von Terence Davies eine der möglichen Geschichten, die zu seiner Flucht führten. Dabei wird zugleich die Zuverlässigkeit des Erinnernden und des Erzählenden angezweifelt.
David wächst auf in Redneck County, in einem kleinen Provinzkaff in den Vierzigern. Eines Tages zieht seine Tante Mae (Gena Rowlands) zu der Kleinfamilie. Mae war früher Nachtclub-Sängerin, befindet sich jetzt am Ende ihrer Karriere und wird schon gleich zu Anfang für ihr „geschmackloses“ Kleid gerügt. David aber freundet sich mit ihr an.
Mae bringt die Möglichkeit des Weggehens in seine Welt. Gena Rowlands Stimme allein erinnert an zugige Bahnsteige in Hartford City, schlechten Bourbon in Baton Rouge und überhaupt alle Mühen des jahrzehntelangen Herumtingelns. Und Mae bringt die Möglichkeit eines anderen Lebens. Das ist auch bitter nötig. Denn die örtlichen Männer treten überwiegend als Radikalmoralisten, Frauenschläger und Schwarzenlyncher in Erscheinung. Davids Altersgenossen sind nicht viel besser. Sie verspotten ihn ob seinens Umgangs mit Mae und beschimpfen ihn als „sissy“, als Schwulen.
Das ist eine Lesart, die der Film für eine Zeitlang durchaus anbietet. Mae beherrscht den Gestus der Diva, und wenn David ihn auch nicht übernimmt, so ist er doch fasziniert davon. Die Gefahr, die Mae für den Rest des Kaffs darstellt, ist auch die der gezeigten Körperlichkeit. Wenn Mae David bittet, ihr die Haare zu waschen, dann beginnt seine Geschlechterrolle sich aufzulösen. Davids Zwischenstatus wird in der Sequenz deutlich, in der alle Männer des Dorfes in den Krieg ziehen. Er ist gerade noch jung genug, nicht mit zu müssen und nimmt statt dessen an den Abendveranstaltungen der Frauen teil. Das ist übrigens eine der lustigsten und schönsten Szenen des Films: Die Frauen tanzen ausgelassen zu wildem Bebop, und es wirkt fast so, als feierten sie die Abreise der Männer. Verständlich.
Matthias Anton Metropolis
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