■ Wer zum Kuckuck hat es nun erfunden?
: Kulturstreit ums Taschentuch

Pfuhl (taz) – Wir konnten es, Hand aufs Herz, nicht ahnen, was wir da anzetteln würden. Kaum hatten wir über die Kuriositäten rund ums Schnupftüchlein berichtet (taz vom 6.11. 96), begann die Weltpresse, sich dieses Themas anzunehmen. Allen voran die italienischen KollegInnen sahen sich gefordert. Und so kam es, daß ein kleines rechteckiges Stückchen Stoff derzeit vor allem Deutsche, Italiener und Österreicher ungemein beschäftigt: das Taschentuch.

In einer munteren Ausstellung zum Thema „Von Rotznasen und Schnupftüchern“ im kleinen Heimatmuseum im bayerischen Pfuhl bei Neu-Ulm geht es schwerpunktmäßig um eine ganze Reihe von kuriosen Geschichten zum Thema Schnupfen und Schneuzen. Doch die Taschentuchforschung, die die Pfuhler Museumsfreunde betrieben haben, löste unversehens ungeahntes Interesse aus und treibt zwischenzeitlich merkwürdige Blüten.

Für die Ausstellung in dem nur sonntags geöffneten Heimatmuseum recherchierte die Brauchtumsexpertin Barbara Hoffmann mit ihren Kolleginnen und fand heraus: „Das Taschentuch hatte seine Ursprünge im 16. Jahrhundert in Italien. Fazzoletto hieß das Stückchen Stoff, das Honoré de Balzac zu der Bemerkung verleitete, man könne den Charakter einer Frau danach beurteilen, wie sie ihr Taschentuch handhabe.“

Der erste Stein ward geworfen – und zog seine Kreise. Von Palermo bis Mailand war wenig später in italienischen Zeitungen von der einmaligen Ausstellung und vor allem dem Ursprung des Fazzoletto zu lesen. Der Neu-Ulmer Ortsteil Pfuhl darf sich seither international bedeutend wähnen, und in der Stadt Neu-Ulm selbst wird die Anfahrtsbeschreibung für Kamerateams und ReporterkollegInnen – „liegt bei Neu-Ulm“ – leicht verschnupft zur Kenntnis genommen.

Doch nicht nur die Neu-Ulmer reagieren leicht indigniert, auch den Italienern ist mit einem Male nicht mehr so recht wohl ums Taschentuch. Denn aus dem fernen Wien ist zu vernehmen, das vermeintliche Fazzoletto sei bestenfalls ein Nachfolger jener schon in der Barockzeit in Austria kreierten Schnupftüchlein aus einer namhaften Designerfabrik.

Richtig ernst wird es freilich für die Fazzoletto-Freaks, seit sich aus Worms ein Schriftsteller und Rabbiner-Forscher zu Wort gemeldet hat. „Der hat mir mitgeteilt, daß das Taschentuch einen noch viel weiter zurückliegenden Ursprung hat“, erzählt Barbara Hoffmann, die sich vor Interviewwünschen gar nicht mehr retten kann. „Dieser Schriftsteller, Georg Dehm, erzählte mir, daß ein Wormser Rabbiner, der 1427 gestorben ist, wahrscheinlich als erster ein Taschentuch benutzte. Und zwar habe der in der Synagoge zu Worms ein viereckiges Stückchen Stoff in einer Mauerritze versteckt oder dort deponiert, worin er sich seines Nasensekrets entledigte, denn im Talmud steht, daß man die Nasensekrete nicht mit der Hand berühren darf.“

Und vollends kompliziert wird die Geschichte dadurch, daß auch aus Frankreich Anspruch angemeldet wird, justament hier sei das Schnupftuch erfunden worden, was die Literatur hinreichend beweise (siehe Balzac).

Die Frage ist nun, was tut man als kleines Heimatmuseum, das mit seinen pfiffigen Ausstellungen an sich nur die allernächste Umgebung erfreuen und weit weniger die Forschung beflügeln will? „Es findet jedenfalls eine Art Kulturkampf auf meinem Schreibtisch statt, wer zuerst in welchem Land sich des Nasenrotzes in ein viereckiges Stückchen Stoff entledigt hat. Das find' ich schön.“ meint die Taschentuchexpertin Hoffmann. Wenn sie – arg strapaziert von nimmermüden Journalisten – dann spätabends den abreisenden Kamerateams mit einem Fazzoletto nachwinkt, tut sie das in der Gewißheit, einen wahrlich verkürzten Brauch anzuwenden.

Denn einst war es in Bayern (wie in Tirol) üblich, Abreisenden alte Schuhe oder Pantoffel nachzuwerfen. Das sollte Glück bringen. Doch die Welt wurde pragmatischer und so kam man recht schnell darauf, daß man die Pantoffel ja eigentlich auch behalten könnte und begnügte sich damit, Strumpfbänder oder Handschuhe nachzuwerfen, irgendwann einmal dann nur noch ein Taschentuch. Ja, und schließlich beließ man es dabei, lediglich mit dem Taschentuch zu winken. Klaus Wittmann