Die Rückkehrer kehren zurück

Vor einem halben Jahr fuhr eine bosnische Familie von Berlin aus nach Hause. Doch da kam sie nicht unter. Jetzt sind die Flüchtlinge zurück. Und werden von den deutschen Behörden weitergeschickt  ■ Von Vera Gaserow

Sie sind gekommen. Vier Jahre ist das her, an einem dieser Oktobertage, an dem das Jahr sich nicht entscheiden kann, ob es wirklich Winter werden will. Zwei Koffer hatten sie dabei, als sie ankamen in der fremden Stadt Berlin. Mehr Platz war nicht für ihr bisheriges Leben.

Sie sind gegangen. Vor gut fünf Monaten war das. Da war es Sommer in Deutschland, aber hier hielt sie nichts mehr. Sie wollten nach Hause, jetzt, nachdem endlich die Waffen schwiegen, nach Hause! Das hatten sie vom ersten Tag an gewollt in dem fremden Land. Irgendwann hätten sie ja ohnehin zurückgehen müssen. Warum also nicht zu den ersten gehören? Zu denen, die freiwillig gehen, ohne Fußtritt der Behörden? In Würde und mit Hoffnung, der verflixten.

Sie sind wieder da. Mitten im Winter sitzen sie in der Flüchtlingsberatungsstelle der Heilig-Kreuz- Kirche in Berlin-Kreuzberg, wo sich Menschen das Treppenhaus hinunter bis auf die Straße drängen. Nichts haben sie dabei, nicht einmal die zwei Koffer, die sie bei ihrer Ankunft vor vier Jahren hatten. Ihr ganzer Besitz sind jetzt die Kleider, die sie tragen. Nur um eine Enttäuschung sind sie reicher.

Die Fujićs haben es versucht. Sie haben das getan, was die Politiker immer drängender von den 320.000 bosnischen Kriegsflüchtlingen fordern. Jasenka und Mustafa Fujić* haben die Koffer gepackt und sind heimgekehrt. Sie haben die beiden Söhne vom Gymnasium abgemeldet und Abschied genommen von den Freunden. Sie haben die Wohnung gekündigt, auf die sie zwei Jahre lang gewartet hatten. Sie haben sich beim Sozialamt verabschiedet und sich eine Grenzübertrittsbescheinigung von der Ausländerbehörde geholt. Das war im August letzten Jahres. „Rückkehrer“ stand seitdem auf der Plakette in ihrem Paß.

Rückkehrer, das wollten die Fujićs sein. Sie brauchten keine Stammtischparolen nach Art des Berliner Innensenators: „Die Kriegsflüchtlinge sollten lieber in ihrer Heimat in die Hände spucken, anstatt in Deutschland die Hände aufzuhalten.“ Sie wollten zurück, auch wenn es direkt in ihre Heimatstadt auf absehbare Zeit kein Zurück geben würde. Irgendwo im sicheren Teil Bosnien- Herzegowinas müßte ein Neuanfang zu finden sein.

Die Bedingungen schienen günstig. Jasenka Fujić ist Architektin, ihr Mann arbeitete bis zur Flucht in leitender Position einer Zuckerfabrik: Wer, wenn nicht sie, würde beim Wiederaufbau des zerstörten Landes gebraucht? „Bosnien-Herzegowina ist doch unsere Heimat“, hat Mustafa Fujić gesagt, „wir hatten dort ein angenehmes Leben. Und wir waren immer gewohnt zu arbeiten. Hier in Deutschland sitzen wir nur rum und warten.“

Familie Fujić studierte die Zeitungen, saugte alles auf, was die Rückkehr erleichtern könnte. Dann, eines Tages im Sommer, die Anzeige in einer bosnischen Zeitung – wie für sie gemacht. Jasenka Fujić erinnert sich an den Wortlaut genau: „Ich habe ein Haus in Tuzla, mit Telefon und Garage“, annoncierte ein geflohener Serbe. „Biete es zum Tausch an gegen ein Haus in Bijeljina.“

Bijeljina – von dort waren die Fujićs am Morgen des 10. Oktober 1992 geflohen. Weil sie nicht warten wollten, bis in ihr Haus drang, was sich in der Stadt ankündigte: „Sie töten die Muslime.“ Serbische Schleuser boten Hilfe an: „Acht Uhr früh, unten am Fluß, nur das nötigste Gepäck.“ Für 2.000 Mark brachten die Fluchthelfer die Fujićs im Kanu zum nächsten Ort. Eine Woche dauerte die Odyssee ins sichere Deutschland.

Vier Jahre später also wieder Bijeljina – schwarz auf weiß in einer Zeitungsanzeige. Nach Bijeljina, das wissen die Fujićs, können sie nicht zurück. Dort, in der heutigen Republika Srpska, wären sie als Muslime ihres Lebens nicht sicher. Aber ein Haus anzubieten, zum Tausch gegen eines in Tuzla, das haben sie doch.

Und was für ein Haus! 150 Quadratmeter groß, mit Garage und einem Garten. Architektin Fujić hat es entworfen. „Es ist wunderschön. Sie müßten es sehen.“ Zu schade, daß sie keine Fotos zeigen kann. Aber nicht einmal für ein paar Kinderbilder war Platz in den zwei Koffern.

Vier Jahre später, in Berlin, packen sie wieder die Koffer. Nicht für die Flucht, auch nicht für eine Orientierungsreise. Eine Heimkehr soll es sein. Im August ist es soweit. Mit dem Zug kehren die Fujićs nach Bosnien-Herzegowina zurück. Berlin-Zagreb, Zagreb- Tuzla. 24 Stunden dauert die Reise in die Vergangenheit, die Zukunft verspricht. Tuzla ist voll von Flüchtlingen. Die Fujićs kommen bei Bekannten unter. Ein Zimmer für die Eltern und die beiden Kinder. Das muß gehen. Es soll ja nur für ein paar Tage sein. Bis die Sache mit dem Haustausch geregelt ist. Es ist schon alles in die Wege geleitet.

In einem Reisebus, eskortiert von Ifor-Truppen, reist Jasenka Fujić nach Bijeljina. Ein Wiedersehen mit „ihrer“ Stadt, die sich verändert hat. Auch hier prägen Flüchtlinge das Straßenbild, so wie in Tuzla, nur sind die Flüchtlinge hier bosnische Serben. Sechs Stunden kann Jasenka Fujić in Bijeljina bleiben, sechs Stunden, in denen die Hoffnung bröckelt.

Mit dem tauschbereiten Hausbesitzer aus Tuzla geht sie in ihre Straße. Sie sieht ihr Haus. Von außen. Es ist bewohnt von fremden Leuten, von serbischen Familien, „es war nicht mehr das alte“. Die selbsternannten Hausbesitzer haben die Blumen, Jasenka Fujićs ganzen Stolz, bis auf den Boden kahlrasiert. Nie werden sie das Haus herausgeben, droht einer der Bewohner. Auch nicht an den serbischen Landsmann, der es gegen sein Eigenheim in Tuzla tauschen will. Wer auch immer sich dem Haus nähert, warnen die Bewohner, sie werden ihn töten.

Jasenka Fujić kehrt zur Familie nach Tuzla zurück. Nach dem zerplatzten Traum vom Haustausch wird man sich anderswo einrichten müssen. Doch im überfüllten Tuzla ist keine Unterkunft frei. Jedenfalls keine, die eine Flüchtlingsfamilie zahlen kann, „400 bis 500 Mark im Monat für ein einfaches Zimmer!“

Die Fujićs geben nicht auf. Sie sind gewohnt, ihr Leben in die Hand zu nehmen, sie suchen bei den Behörden Hilfe. Dort weist man sie ab. Seit Ende Juni 1996 nimmt die Stadt Tuzla keine weiteren Flüchtlinge auf. Auch finanzielle Hilfe zur Sicherung des Existenzminimums erhält nur noch, wer ins örtliche Melderegister eingetragen ist. Nur: ohne Unterkunft keine Meldung.

Ein Teufelskreis, in den nicht nur die Fujićs geraten. Fast alle bosnischen Kommunalverwaltungen, so beobachtet das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen mit Sorge, gestehen nur denjenigen Rückkehrern Hilfe zu, die schon vor dem Krieg in der Gemeinde ansässig waren. Und das sind die allerwenigsten.

Die Fujićs versuchen ihr Glück in Sarajevo. Doch dort gelten die gleichen Bestimmungen: ohne Meldeadresse keine Unterkunft, ohne Unterkunft keine Hilfe zum Lebensunterhalt.

Dabei sind sie doch gekommen, um zu arbeiten. Um die entwürdigende Untätigkeit in Deutschland hinter sich zu lassen, um nicht mehr als Bittsteller anderen auf der Tasche zu liegen, um endlich wieder das Ehepaar Fujić zu sein, das jahrelange Berufserfahrung vorweisen kann. Jasenka Fujić sucht nach einer Arbeit als Architektin. Werden solche Leute denn nicht gebraucht in diesem zerschossenenen Land? Sie ist bereit auch andere Tätigkeiten anzunehmen, am Ende bewirbt sie sich als Schalterangestellte – und wird abgelehnt.

Ohne Wohnung keine Arbeit. In Sarajevo lassen die Fujićs keine Anlaufstelle aus, um Hilfe zu finden: UN-Flüchtlingskommissariat, deutsche Botschaft, Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit – sie alle kennen das Problem und schütteln bedauernd den Kopf. Irgendwann im November geben die Fujićs auf. Wochenlang haben sie gewartet auf die wenigen Habseligkeiten, die sie aus Deutschland mitnehmen konnten. Doch die Hilfsorganisation, die den Transfer des Gepäcks nach Bosnien vermittelte, bedauert. Der Transport sei überfallen worden. Alles geraubt. Die Fujićs stehen mit weniger da als bei ihrer Flucht vor vier Jahren. Wie sollen sie in diesem Nichts den bosnischen Winter überstehen?

Sie beschließen zurückzugehen, wieder in die andere Richtung, nach Deutschland. Zweimal werden sie an der slowenischen Grenze zurückgewiesen. Erst beim dritten Anlauf gelingt die Rückkehr der Rückkehrer. Nach einer Irrfahrt durch Kroatien, Italien und Frankreich gelangen sie über die deutsche Grenze. Als sie endlich in Berlin ankommen, liegen 70 Stunden Zugfahrt hinter ihnen.

Sie sind wieder da. Doch die Stadt, in der sie vier Jahre gelebt haben, behandelt sie so, als ob sie niemals hier gewesen wären. Sie haben keine Wohnung mehr, man wird ihnen einen Heimplatz zuweisen. Das Sozialamt, in dem man sie kennt, ist nicht mehr zuständig. Die Kinder werden in eine neue Schule gehen müssen, je nachdem, wo in der Stadt man ihnen zu wohnen erlaubt. Aber lohnt es überhaupt noch, in die Schule zu gehen? Nach dem Willen der Behörden sollen die Fujićs ohnehin nur noch an einen Ort gehen: zurück nach Bosnien, wo sie gerade hergekommen sind.

Am Morgen waren Jasenka und Mustafa Fujić bei der Ausländerbehörde. Die Stelle, die bisher problemlos ihre Duldungen verlängerte, hat sie weitergeschickt. Die zurückgekehrten Rückkehrer werden als neu eingereiste Flüchtlinge eingestuft. Und für die gibt es keine Duldung mehr.

Wo man sich schließlich für sie zuständig fühlt, läßt man die Fujićs vier Stunden warten. Dann endlich wollen sie erklären, was ihnen in Bosnien widerfahren ist. Doch der Mann hinter dem Schreibtisch wirft nur einen Blick auf das Papier mit ihrem Bericht. Statt zu lesen, händigt er einen Standardbrief mit vorformulierten Textbausteinen aus. „Sie sind unerlaubt und ohne den entsprechenden Sichtvermerk eingereist und halten sich seitdem unerlaubt hier auf. Dieser Sachverhalt stellt bereits einen Ausweisungstatbestand dar.“ Von der Ausweisung wolle man „zur Zeit“ noch absehen. Doch „sofern Sie nicht innerhalb eines Monats (...) freiwillig ausgereist sind, werden wir Ihre Ausreise zwangsweise durchsetzen.“

Jasenka Fujić versucht die Verbitterung wegzulächeln. Sie schafft es nicht. „Müde“ ist sie, „einfach müde“ – müde von dem jahrelangen Leben aus Koffern und Taschen, müde von den enttäuschten Hoffnungen. „Ich kann nicht mehr.“ „Eine Rückkehr in Ihren Heimatstaat ist Ihnen zuzumuten“, hat die Ausländerbehörde befunden. Am 20. Januar, kommenden Montag, muß sich Familie Fujić wieder melden. Zu diesem Termin, so steht es in dem amtlichen Bescheid, sind vorzulegen: „Flugticket für die Heimreise, Bahnfahrkarte für die Heimreise“.

*Namen geändert