Ohrfeigen aus Karlsruhe

■ Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird der hanseatische Umgang mit Sitzdemonstrationen zum Rechtsbruch Von Jürgen Oetting

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat mit einem gestern veröffentlichten Urteil ganz nebenbei der hamburgischen Innenbehörde und der Polizei eine mächtige Schelle verpaßt. So wie bislang mit vielen DemonstrantInnen umgegangen wurde, geht es rechtlich nicht weiter. Die Karlsruher RichterInnen befanden, daß TeilnehmerInnen von Sitzdemonstrationen grundsätzlich nicht mehr den Straftatbestand der Nötigung erfüllen.

Das muß für Hamburgs Ordnungsbehörden ein mächtiger Schlag ins Kontor sein, denn genau auf Grund des Vorwurfes „Nötigung“ wurden in den vergangenen Jahren BlockiererInnen abgeräumt, angezeigt und verurteilt beziehungsweise mit einem Strafbefehl verknackt. Allein die Stresemannstraßenblockaden – nach dem Unfalltod eines Mädchens im Spätsommer 1991 – führten zu etwa hundert Nötigungsanzeigen. Rechhtsanwalt Manfred Getzmann erklärte der taz, daß aus den damaligen Aktionen immer noch Verfahren anhängig sind. Getzmann nach der Karlsruher Entscheidung: „Die müssen jetzt freigesprochen werden.“ Das Urteil sei eine deutliche Absage an „politische Behinderung mit dem Strafrecht“.

Auch die berüchtigte Hackmann-Viertelstunde ist nach Auffassung von Hamburger Juristen nicht mehr haltbar. Der ehemalige Innensenator Werner Hackmann gilt als Urheber einer hanseatischen Polizeipraxis, die Sitzdemonstrationen nach exakt 15 Minuten auflöste, was gerne mit Festnahmen und Anzeigen einherging. Wenn nun der Straftatbestand der Nötigung wegfällt, gibt es keine Rechtsgrundlage für die hackmännische Auflösungsaktion mehr.

Darauf aufbauend dreht Getzmann jetzt den Spieß um: Wenn weiterhin so verfahren wird wie bisher, machen sich nicht die DemonstrantInnen, sondern Senat oder Polizeiführung strafbar.

In der höchstrichterlichen Urteilsbegründung wird die bisherige Rechtsprechung – in Hamburg bis heute gang und gäbe – in einer Weise kritisiert, die an Richterschelte erinnert und sozialdemokratischen Innenpolitikern in den Ohren klingeln müßte: „Der Begriff der Gewalt ist in der Rechtsprechung der Strafgerichte kontinuierlich ausgeweitet worden.“ Und an anderer Stelle heißt es: „Rechtswidrig ist die Tat aber nur, wenn die Androhung der Gewalt oder die Androhung des Übels zum angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.“ In politischen Demonstrationen – etwa gegen den Autowahn – können die Karlruher Richter jedoch keinen „verwerflichen Zweck“ erkennen.

Der Sprecher der Innenbehörde, Peter Mihm, hatte gestern zur neuen Lage nichts zu sagen. Das Karlsruher Urteil lag weder ihm noch seinem Chef vor.