Rohrpost auf Abwegen

Bei der Bob-Europameisterschaft erfahren Quereinsteiger, wo im Eiskanal oben und unten ist  ■ Aus Berchtesgaden Albert Hefele

Wie fühlt sich die Rohrpost? Zugegebenermaßen nicht eben eine der drängenden Fragen der Menschheit. Wer es trotzdem wissen will, sollte sich dem Bobfahren zuwenden. Der einzigen Sportart, bei der sich bis zu vier Aktive freiwillig in eine kufenbestückte Rakete zwängen und mit der Geschwindigkeit eines flotten Kleinwagens durch eine enge Eisröhre schießen lassen. Unterschied zum Kleinwagen: keine Federung, keine Scheibenbremsen. Bei der gestrigen Europameisterschaft in Berchtesgaden waren die Viererraketen der Schweizer Reto Götschi und Marcel Rohner schneller als die der einheimischen Wolfgang Hoppe und Dirk Wiese.

Für die Leute, die am Königssee daheim sind, ist das Donnern der herannahenden Viererbobs vertraut. Schließlich gab es dort schon vor fast 40 Jahren eine Rodelbahn. Das wußte sogar Carolin Reiber, die durch die Eröffnungsfeier auf dem natürlich „wunderschönen Schloßplatz“ führte und sich ein weiteres Mal den ersten Platz in der Disziplin „Dauergrinsen und Schleimen“ sicherte. Da hatte auch die Bundeswehrkapelle keine Chance, obwohl wildentschlossen gutgelaunte Musicalpotpourris absondernd und einen bemerkenswerten unmilitärisch sich windenden Dirigenten präsentierend. Geschweige denn Schirmherr Dr. Helmut Kohl, der erst gar nicht kam, sondern von einem Herrn Speck Grüße ausrichten ließ. Aus der Menge sprach es: „Dahoam waar's a soo schee, auf'm Sofa...“

Das Gros des Publikums hielt jedoch tapfer aus und begrüßte freundlich die Sportler aus Europa und Übersee, die auch mittun durften, weil es parallel zur EM noch um Weltcuppunkte ging. Fast hätte einer von ihnen am Samstag den Männern vom alten Kontinent das Fest verdorben, doch die US- Amerikaner Brian Shimer/Rober Olesen patzten schon in der Startphase des zweiten Laufes der Zweier-Konkurrenz und überließen Günther Huber, Sepp Dostthaler aus München und Reto Götschi aus der Schweiz das Treppchen. Der Südtiroler Polizist Huber siegte um eine Hundertstelsekunde vor dem Münchner Sepp Dostthaler, weil er die Ausfahrt aus dem „S“ und die anschließende lange Gerade etwas präziser fuhr und weil die Italiener am Start den größeren Lärm veranstalteten. „Beim Bobfahren entscheiden eben Hundertstel“, sagt Michael Liekmeyer, „und ein funktionierendes Team.“

Liekmeyer ist Bremser im Vierer von Dirk Wiese und weiß dementsprechend Bescheid. Der 26jährige Student der Sportwissenschaften fährt seit zwei Jahren mit. Ein aus der Leichtathletik kommender Quereinsteiger; kein exotischer Einzelfall, sondern mittlerweile die Regel. Von der Tartanbahn in den Eiskanal haben unter anderen Zehnkämpfer Thorsten Voss, der 400-m-Läufer Sven Peter, Diskuswerfer Marco Jacobs oder der momentan verletzte ehemalige deutsche 100-m-Meister Wolfgang Haupt gewechselt.

Ein Pilot, der in der Weltspitze mitfahren will, muß nicht nur einen Schlitten der Flugzeugwerft Dresden unter dem Hintern haben, er braucht auch noch sehr schnelle Leute, die ihn anschieben. Also: mit drei 10,0-Sprintern hinter sich wird jeder, der so gerade die Steuerseile halten kann, Weltmeister? Ganz so einfach ist es nicht. Entscheidend ist die Fähigkeit, „gegen Widerstand zu laufen“. Will sagen: die schnellen Beine lange genug auf dem Eis zu lassen, um die Beschleunigung auf den Bob zu übertragen. Kaum zu erlernen; eine Frage des Schwerpunktes, mehr noch eine Frage des Gefühls.

Überhaupt hat der für den Außenstehenden doch eher rustikal wirkende Wintersport sehr viel mit Gefühl zu tun. „Bei Tempo 140 kannst du nicht mehr schauen und nachdenken“, sagt Liekmeyer, „die Mannschaft muß jeden Meter der Bahn kennen und auf jede Rippe im Eis reagieren.“

Gefühl. Nicht umsonst fahren die meisten Piloten ohne Handschuhe. In einem voll beschleunigten Vierer kann eine um Zentimeter zu hoch angefahrene Kombination das Achterbahn-Gefühl vollkommen machen. Liekmeyer kann sich noch gut an seine ersten Fahrten erinnern: „Nach zehn Sekunden weißt du nicht mehr, wo oben und unten ist.“

Gott sei dank hat er Dirk Wiese vor sich sitzen, der einer der weltbesten Boblenker ist und nie den Überblick verliert. Aktuelles Indiz: Die beiden Finalläufe zur Vierer-EM, bei denen er nur knapp von den Schweizern geschlagen wurde. Weil er etwas Pech bei der Auslosung hatte, die Schweizer die Ausfahrt zur langen Gerade etwas idealer fuhren und am Start den größeren Lärm veranstalteten.