: BSE bringt eine Henne aus dem Gleichgewicht
Auf einem Hof im Süden Englands, auf dem schon mehrere Rinder an BSE erkrankt waren, hat die Rinderseuche nun ein Huhn erwischt. Können Menschen sich durch den Verzehr von infiziertem Hühnerfleisch anstecken? ■ Aus Newcastle Ralf Sotscheck
Der Hausflur ist schmal und dunkel. Links stehen zwei weiße Schubladenschränke übereinander, ein kaputter Kühlschrank mit einer Batterie von leeren Reagenzgläschen auf der Abstellfläche und ein neuer Safe. „Den Safe mußte ich mir zulegen, weil man bei mir zweimal eingebrochen und meine Forschungsunterlagen gestohlen hat“, sagt Dr. Harash Narang, Mikrobiologe aus dem nordenglischen Newcastle.
Neben dem Safe steht ein großer Pappkarton, um den eine Kordel als Tragegriff gewickelt ist. Der Karton ist notdürftig mit Maschendraht abgedeckt. Als wir uns an das schummrige Licht gewöhnt haben, erkennen wir ein Huhn, das apathisch in der Ecke des Kartons auf der Seite liegt. „Die ersten Symptome sind vor vier Wochen aufgetreten“, sagt Narang. „Dem Bauern fiel auf, daß die Henne Gleichgewichtsstörungen hatte und mit unnatürlich weit gespreizten Beinen stand. Da auf dem Hof mehrere Rinder an BSE erkrankt waren, erkannte der Bauer diese typischen Anzeichen sofort.“
Der Hof, von dem das Tier stammt, liegt im Süden Englands an der Grenze der Grafschaften Surrey und Kent. Es ist ein Milchwirtschaftsbetrieb, doch der Bauer hält seit 50 Jahren auch etwa 30 Hühner. Sie sind bis August 1996 mit Tierkörpermehl gefüttert worden – ebenso wie Schweine und Fische. Dann trat das Verbot in Kraft. Zur Zeit bearbeiten Vertreter der Futtermittelindustrie die Politiker, damit das Verbot wiederaufgehoben wird oder ihnen andernfalls zwei Milliarden Pfund Schadensersatz gezahlt werden. Das ist der Grund, warum der Bauer anonym bleiben will: Er befürchtet, er würde sonst von Industrie und Politik unter Druck gesetzt.
Für Wiederkäuer gilt das Fütterungsverbot von Tierkörpermehl in Großbritannien bereits seit 1988. Danach haben sich die Exporte von Tierkörpermehl in andere Länder der EU verdoppelt, bis im September 1990 auch dort ein Verbot erlassen wurde. Der größte Teil war bis dahin nach Frankreich gegangen. Nach Ansicht des französischen Pathologen Professor Mark Savay vom Veterinärzentrum bei Paris wurden die britischen Produkte gern gekauft, weil sie sehr billig waren. Wahrscheinlich sind sie hauptsächlich an Schweine und Geflügel verfüttert worden, weil sonst viel mehr Rinder an BSE erkrankt wären.
Legehennen werden meist mit 18 Monaten getötet. Da seien sie zu jung, als daß Symptome einer BSE-Infizierung auftreten könnten, sagt Narang. Das an BSE erkrankte Huhn bei ihm zu Hause ist zweieinhalb Jahre alt. „Ein Ei hat es zum letztenmal vor vier Monaten gelegt. Ob der Erreger auch im Ei vorhanden ist, kann man deshalb noch nicht sagen.“ Narang hat einen Neuropathologen gefunden, in dessen Labor er nach dem Tod der Henne mit dem infizierten Material experimentieren kann. In der Vergangenheit hat das Landwirtschaftsministerium nichts unversucht gelassen, um seine Forschungen zu blockieren.
Wir sind mit der Henne auf eine Wiese gegangen, wo Narang die klassischen Symptome erläutert. „Das unkontrollierbare Zittern des Beines tritt auch bei BSE-infizierten Rindern und bei Menschen auf, die am Creutzfeldt-Jakob- Syndrom erkrankt sind“, sagt er. „Der Krankheitsverlauf ist in allen drei Fällen identisch. Und es gibt keine andere Hühnerkrankheit, bei der solche Symptome auftreten.“ Als er das Tier aufzurichten versucht, flattert es kurz mit den Flügeln, knickt jedoch sofort mit den Beinen ein. Während es auf der Seite liegt, pickt es hektisch Gras auf. „Ich bin froh, daß die Regierung im August endlich das Fütterungsverbot auf alle Tiere ausgedehnt hat“, sagt Narang. „Die Politiker wußten, daß da noch immer etwas falsch lief, sonst hätten sie das Verbot nicht erlassen. Sie haben bisher immer nur reagiert, wenn es unvermeidlich war.“
Von der selektiven Zwangsschlachtung von 1,1 Millionen Rindern, zu der sich Großbritannien 1996 auf dem Europäischen Rat in Florenz verpflichtet hat, hält Narang nichts. „Es gab ohnehin einen Überschuß von einer Million Rindern in Großbritannien“, sagt er. „Durch das Schlachtprogramm ist man diesen Überschuß nicht nur losgeworden, sondern hat sich die Sache obendrein von Brüssel teilweise finanzieren lassen.“
Es seien in vielen Fällen die falschen Tiere getötet worden, glaubt Narang. „Die Tierkrematorien waren bereits völlig überlastet, als vor drei Jahren rund 900 kranke Rinder pro Woche getötet wurden.“ Bauern, die ihre Tiere töten lassen wollen, um 600 Pfund Schadensersatz zu kassieren, müssen die Tiere in vielen Fällen um ein Drittel billiger an die Krematorien verkaufen. „Für die eigenen Tiere sind plötzlich Kapazitäten in den Krematorien frei“, sagt Narang, „und im Handumdrehen haben die Besitzer der Anlagen 200 Pfund pro Tier verdient. Ob die Tiere tatsächlich älter als 30 Monate waren und unter die Vereinbarung von Florenz fallen, kontrolliert niemand. Vielleicht landen sie am Ende sogar auf dem Mittagstisch.“
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