Monument vor der Demontage gerettet

Bruno Bettelheim, berühmter Pädagoge, umstrittene Persönlichkeit, Selbstmörder. Die angloamerikanische Schriftstellerin Nina Sutton hat eine kluge Biographie geschrieben, die zugleich ein Stück politischer Geschichte ist  ■ Von Peter Wülfing

Deutschen Lesern ist wenig bekannt, welcher Skandal über Bruno Bettelheim hereinbrach, nachdem er sich am 13. März 1990, im Alter von 87 Jahren, in Maryland/USA selbst getötet hatte. Der berühmte Psychoanalytiker, Pädagoge und Humanist wurde mit einer Heftigkeit attackiert, die vielleicht nur in US-Medien und vielleicht nur im Milieu der Psychoanalyse möglich ist. Seine Ausbildung in Wien wurde angezweifelt, seine Rolle als Leiter der Orthogenic School in Chicago in Frage gestellt, sein Verhalten als Ehemann und Vater verurteilt. MitarbeiterInnen, Zöglinge/Patienten, Angehörige fielen mit Enthüllungen über ihn her beziehungsweise enthielten sich der Stimme, wo man etwas zur Verteidigung von ihnen erwartete.

Nina Sutton war im selben Jahr aufgebrochen, seine Biographie zu schreiben, verlockt durch die Popularität seiner Schriften – klingende Titel wie „Liebe allein genügt nicht“, „Gespräche mit Müttern“, „Kinder brauchen Märchen“ sind darunter – und durch das europäisch-amerikanische Schicksal dieses Mannes. (Nina Sutton ist politische Publizistin englischer Abkunft, lebt in Paris, war viele Jahre Korrespondentin von Libération in Washington, schrieb ein Buch über Watergate, ein anderes über die europäische Rechte.) Im Vorwort beschreibt sie ihre ersten Recherchen in den USA ... und ihre Furcht, das Projekt aufgeben zu müssen.

Sie überwindet den Schock und findet in Wien die Spuren B.B.s, der aus einer assimilierten, wohlhabenden jüdischen Famile stammte. Sein Vater war Holzgroßhändler. Der Sohn führt schon früh erfolgreich die Geschäfte der Firma, nimmt um 1935, 33jährig, früher begonnene Studien wieder auf und erwirbt den Doktorgrad in Philosophie. Er beginnt auch eine Psychoanalyse und kommt mit der Therapie gestörter Kinder in eine indirekte Berührung.

Wenige Wochen nach dem „Anschluß“ 1938 wird B.B. ins KZ Dachau, später nach Buchenwald deportiert. Nach einem Jahr erlangt er durch amerikanische Interventionen die Freiheit und emigriert in die USA.

Dort veränderte er sein Vorleben: Nun war er ein bei den bedeutendsten Wiener Lehrern ausgebildeter Psychoanalytiker mit vollgültiger Selbstanalyse, hatte den berühmten Fall des Mädchens Patsy, eines schwer autistischen Kindes reicher Amerikaner, selbst bewältigt (obwohl er allenfalls durch seine damalige Frau etwas mehr als andere davon wußte; auch sie hatte das Kind nicht therapiert) usw. Durch die phantasievolle Selbstdarstellung – „halbwahr“ nennt sie die Biographin im Wissen um B.B.s Vorhaben, die der „Anschluß“ zerstört hat – schuf sich der Emigrant die Möglichkeit eines Starts an der Universität von Chicago. Das Anfechtbare war B.B. bewußt und ängstigte ihn oft.

Aufgrund seiner KZ-Haft wurde er sieben Jahre später der anerkannte Sachverständige für die Lager-Schicksale im Nürnberger Prozeß; wieder anfechtbar und angefochten; denn Vernichtungslager hatte B.B. nie gesehen. Man lud ihn wohl deshalb als Zeugen, weil von ihm bereits 1946 Analysen zur KZ-Gefangenschaft („extreme situations“) vorlagen, gerichtsverwendbares Material.

Am schwersten wogen jedoch Enthüllungen über sein Wirken an der Orthogenic School. B.B., der stets eine radikale Hingabe an das leidende Kind predigte, soll Kinder geschlagen haben; er sei zuweilen „Benno Brutalheim“ genannt worden. Eine schwer zu bewertende Information, Nina Sutton erörtert sie eingehend.

Und dann das Privatleben! In Wien hatte B.B. Gina Alstadt geheiratet. Sie hatte seine psychoanalytischen Interessen geteilt und sich dann von den USA aus für B.B.s Befreiung eingesetzt; aber die Ehe endete, als Bettelheim im Exil ankam. Die zweite Frau, Trude Weinfeld, war schon in Wien Bettelheims Geliebte gewesen. Sie hat geduldig sein Leben in den USA begleitet. B.B. hielt sich selbst nicht für einen guten Ehemann und trug doch so schwer an ihrem Tod 1984. Zudem entwickelte sich mit einer seiner Töchter eine schwere Krise, die seinen Tod überdauerte. Mit der Biographin verweigerte sie jeden Kontakt.

Welche Anhäufung von problematischen, unsympathischen Zügen! Es liegt nahe, eine Biographie der Demontage zu schreiben, Bettelheim jede Größe abzusprechen, seine Erfolge als Lügen zu entlarven. (Seit Januar 1997 gibt es eine solche Biographie in den USA, von Richard Pollak, Bruder eines Patienten von B.B.) Nina Sutton, selbst keine Psychologin oder Therapeutin, keine Pädagogin, sondern eine gute Schriftstellerin und kluge Frau, hat die historisch-politische Dimension von Bettelheims Schicksal erkannt und sich in diesen so sehr europäischen Mann eingefühlt. In fünfjähriger Arbeit hat sie sich mit seinem wissenschaftlichen Werk vertraut gemacht, eine große Anzahl seiner Briefe aufgefunden und ausgewertet, hat die Personen aufgesucht und angehört, die sprechen wollten, hat die Menschen, die im Leben B.B.s Bedeutung hatten, aus ihren Handlungen und Äußerungen charakterisiert, Belegbares sorgfältig von Vermutung trennend – und hat die geschont, die darauf Anspruch haben.

Hervorragend ist das Wiener jüdische Milieu beschrieben, faszinierend das Schicksal des österreichischen Staatswesens in den Jahren vor dem „Anschluß“ und die Details der Ereignisse im März 1938. Von B.B.s KZ-Haft entsteht ein fesselndes Bild, ergänzt durch die umsichtige Kommentierung seiner Briefe aus dieser Zeit. Bettelheims ambivalentes Verhältnis zur Gewalt, zu Israel (zur Kindererziehung in den Kibbuzim: „The Children of the Dream“), sein Erschrecken vor Lina Wertmüllers Film „Die sieben Schönheiten“, seine starre Ablehnung der Studentenbewegung der 70er Jahre markieren die Schilderung seiner komplexen Persönlichkeit.

Die Biographie ist dort besonders spannend zu lesen, wo zwischen widersprüchlichen Informationen abgewogen wird, wo der Leser gewissermaßen an der Recherche teilnimmt, und ist dort gewinnend, wo mit biographischem Takt die schwierigen, zum Teil tragisch gebrochenen Beziehungen zu seiner Frau und zu seinen Kindern behandelt werden.

Das Buch erschien 1995 in Frankreich, dann in England und den Staaten. Es hat in diesen Ländern ein erstaunliches Echo in der Publikumspresse gefunden (vom Daily Telegraph wurde es zum „Book of the Year 1995“ gewählt). Merkwürdig, daß der Hoffmann und Campe Verlag zwar die vorzügliche Übersetzung durch Brigitte Große veranlaßte, jedoch den instruktiven Bildteil der Originalausgabe einfach wegließ und, in Verkennung des eigentlichen Wertes, das Buch zunächst nur in der psychologischen Fachpresse anzeigte. So kommen ausgerechnet aus den deutschsprachigen Ländern (Wien!) erst jetzt erste Reaktionen auf die wichtige Biographie des Österreichers Bettelheim, der, vom deutschen KZ gezeichnet, in den USA zum Therapeuten und Pädagogen der Emanzipation wurde und noch posthum für seinen Paternalismus gestraft wird.

Nina Sutton, „Bruno Bettelheim. Auf dem Weg zur Seele des Kindes“, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1996, 623 S., 68 DM.

Peter Wülfing ist Professor für Klassische Philologie an der Universität Köln