■ Die Nato-Osterweiterung ist so unsinnig wie unausweichlich. Die Opposition ignoriert das Thema bislang
: Ein Spiel mit dem Feuer

Nato goes east. Bei der Erschließung des Ostens hat die Nato mittlerweile eine Dynamik entwickelt, die in umgekehrter Proportion zur Klarheit ihrer Ziele steht. Vom „explosivsten Thema des Jahres“ spricht The Guardian. Die Zeitung bezweifelt, daß in der jetzt an den Tag gelegten Eile die Lösung gefunden werden kann, von der Bundeskanzler Kohl Anfang Januar bei seiner Rückkehr von Jelzin so sibyllinisch sprach. Bis zur Nato- Tagung im Juli sollen die ersten Beitrittskandidaten benannt werden. Dann soll auch Rußlands Zustimmung vorliegen. Und wenn nicht?

Selbst ein so besonnener Mann wie der SPD-Politiker Günter Verheugen will auch in diesem Fall Polens Beitritt vollziehen. Bislang hat kein Nato-Politiker an dem Zeitplan rütteln lassen. Er ist so unumstößlich wie sein Zustandekommen zufällig. Von einer innenpolitischen Laune des amerikanischen Präsidenten inspiriert, hat er sich zu einem Selbstläufer entwickelt, von dem selbst der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher meint, er sei „in der Tat keine Meisterleistung. Man redete los, ohne über ein Gesamtkonzept zu verfügen, in dem auch Mittel- und Osteuropa einschließlich Rußland seinen Platz hat“.

Dieses Gesamtkonzept hat man auch heute noch nicht gefunden. Längst ist die Vernunft, mit der einst die Pläne des gemeinsamen Hauses Europa entworfen wurden, einer kühlen Analyse der russischen Drohpotentiale gewichen. Ergebnis dieser Analysen: Rußland hat letztendlich keinen Hebel in der Hand, mit dem es die Nato- Osterweiterung wirksam blockieren könnte. Ihm bleibt, so Nato- Generalsekretär Solana, nur die Wahl zwischen einer privilegierten, dauerhaften Beziehung zur Nato und dem Rückzug in die Selbstisolierung. Deshalb geht das Moskauer Njet zur Osterweiterung schon seit längerem mit der Bereitschaft einher, über Einzelheiten einer künftigen Sicherheitspartnerschaft zu reden. Eine Doppelstrategie, die der normativen Kraft der faktischen Übermacht Rechnung trägt.

Die Elemente der Sicherheitspartnerschaft gewinnen dabei allmählich Konturen: Der Verzicht auf die Stationierung atomarer Waffen in den beitretenden Ländern scheint sicher. Doch garantiert ist dies bis heute nicht.

So befindet sich das Nato-Rußland-Gremium, die 16-plus-1- oder 17er-Runde noch im Stadium der Bekundungen. Bei ihm scheint vor allem festzustehen, daß der Gegenseite kein Vetorecht eingeräumt werden soll. Damit würden Rußlands Sicherheitsvorbehalte durch dieses Gremium wohl nicht ausgeräumt werden.

Offen ist auch noch, welche Kooperationspotentiale in dem „Rat für atlantische Partnerschaft“ liegen. Darin würden die „Partnerschaft für den Frieden“ (in dem Nato und GUS-Staaten zusammenarbeiten) und der Nato-Kooperationsrat zusammengeführt werden können. Daraus könnte ein Sicherheitsbündnis von Vancouver bis Wladiwostok entstehen. Die Qualität dieser Institution wird jedoch von den ihr zugestandenen Kompetenzen und seinen Entscheidungsstrukturen abhängen.

Weit mehr als ein solcher Vorschlag – und um mehr scheint es sich auch innerhalb der Nato noch nicht zu handeln – wird für die russische Haltung zur Osterweiterung die Verhandlung über den „Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa“ (KSE) von Bedeutung sein. Die Bereitschaft, darüber neu zu verhandeln, ist seit dem Lissabonner OSZE-Gipfel gegeben, die Notwendigkeit dazu war bereits zuvor sichtbar. Denn wenn westlicherseits immer wieder behauptet wurde, die Nato-Osterweiterung verletze den KSE- Vertrag nicht, so steckte in diesem Argument eine gehörige Portion juristischer Rabulistik und politischer Ignoranz. Als „wichtigste Säule des europäischen Sicherheitssystem nach dem Kalten Krieg“ (so der außenpolitische Sprecher der Republikaner im amerikanischen Senat, Sam Nunn) war der KSE-Vertrag zentraler Bestandteil des Abbaus der Blockkonfrontation. Ein Schalk, wer glaubt, daß diese Säule nicht wackelt, wenn der westliche Block einseitig und expansiv revitalisiert wird. Zumal ein Ende der Nato- Erweiterung nicht abzusehen, eine Grenze der Expansion nicht benannt ist. Erst Polen, Ungarn, Tschechien, dann Rumänien und Bulgarien? Und Lettland und Estland?

Weil die zukünftigen Nato- Grenzen unklar sind, stehen alle nun zu treffenden Festlegungen unter dem Vorzeichen des Vorläufigen: Das Verfahren birgt neue Unsicherheiten, selbst dort, wo es Sicherheiten schafft. Nicht von ungefähr nannte der russische Außenminister Primakow die Verhandlungen über den KSE-Vertrag die „Elle“, an der Rußland die Glaubwürdigkeit der Absichten der Nato messen wolle.

Diese Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen, könnte bedeuten, die Nato-Erweiterung nicht nur mit dem Verzicht auf die Stationierung fremder Truppen und A-Waffen in den Beitrittsländern zu verbinden, sondern auch eine Abrüstung im konventionellen Bereich einzuleiten.

Die Bundesregierung will die KSE-Verhandlung „als Gestaltungselement für den vertrauensvollen Umgang mit Rußland nutzen“. Bislang hat die Opposition kaum erkennen lassen, daß sie auf diese Gestaltung nennenswerten Einfluß nehmen will. Sie schwankt in ihrer Haltung zur Nato-Osterweiterung zwischen staatstragender Anpassung und prinzipientreuer Ablehnung und feiert schon als Fortschritt, wenn sie beides zu einem kraftvollen Sowohl- Als-auch in einem Grundsatzpapier vereint, das sie sich dann wechselseitig vorlesen und vorhalten kann.

Während Teile der SPD darauf bedacht sind, keine gravierenden Differenzen zur Regierung erkennbar zu machen, gerät den Bündnisgrünen schon das Beschäftigen mit dem Thema zum Politikum. Denn für die Grünen ist die Abschaffung der Nato doch noch immer Programm. Zudem verfügen sie mit der OSZE über ein sicherheitspolitisches Modell, das an Schönheit kaum zu überbieten ist.

So geht es der Opposition derzeit in der Frage Nato-Osterweiterung so ähnlich wie es seinerzeit allen aufrechten Verfassungspatrioten mit der deutschen Einheit ging. Jeder sah im Zusammenschluß nach Artikel 23 den angemessenen, den würdigen Weg – heraus kam bekanntermaßen der schäbigere Anschluß nach Artikel 146 GG. Doch auch auf diese Weise wurde bekanntlich ein Rahmen geschaffen, in dem man sich fortan bewegen mußte. Recht zu haben nutzt in der Politik manchmal wenig. Dieter Rulff