Mehr Augenmerk den jungen Rambos

Anhörung der SPD-Bundestagsfraktion zu „Sexuelle Gewalt gegen Kinder“. Expertinnen fordern eine „täterspezifische Prävention“ und Kommissariate gegen Pädophilenringe  ■ Aus Bonn Tina Stadlmayer

„Die Prävention beginnt in den Köpfen“, sagte die Psychologin Monika Gerstendörfer zu Beginn der SPD-Anhörung „Sexuelle Gewalt gegen Kinder“. Sie forderte einen anderen Umgang mit den Begriffen. Das Thema der Anhörung sollte besser „sexualisierte Gewalt“ heißen, denn es ginge nicht um Sexualität, sondern um „einen besonders brutalen Gewaltakt“. Wegbereiter für diese Gewalttaten sei das „sexualisierte Kinderbild in den Medien und in der Werbung“. So würden zum Beispiel in der Werbung für Produkte gegen Zellulitis „Bilder von Popos und Beinen 13jähriger Mädchen“ gezeigt: „Der kindliche Körper wird zur Schönheitsnorm erklärt und damit sexualisiert.“

Parallel zur Sexualisierung von Kindern gebe es einen Trend zur Verkindlichung von Frauen. Die „Schwatzecken“ im Internet seien inzwischen der Tummelplatz für Pädophile. Hier würden Bilder von realen Kindesmißhandlungen gezeigt und Infos ausgetauscht, wie man an Kinder herankomme. Sie kritisierte, daß aufgrund der Gesetzeslage in diesen „Schwatzecken“ nicht ermittelt werden könne: „So etwas wie ein Tatmittel Computer gibt es noch nicht — das wäre aber dringend notwendig.“ Die Psychologin bezeichnete es als „schockierend“, daß es in Deutschland bislang „keine Kommissariate gibt, die das organisierte Verbrechen um Pädophilenringe herum systematisch bekämpfen“. Zum Thema Prävention sagte Geißendorfer, viele sexualisierte Gewalttaten würden von Jugendlichen, genauer von Jungen, begangen. Da ihre Väter häufig abwesend seien, wählten sie Medienhelden wie „Rambo“ zu ihren Vorbildern. Deshalb müsse viel Augenmerk auf die „täterspezifische Prävention“, also auf die „Sozialisierung der Jungen“ gelegt werden.

Auch Ursula Enders von der Beratungsstelle „Zartbitter“ in Köln sagte, es sei ein Skandal, daß es bislang keine einzige Beratungsstelle für Jungen gebe. Eine geschlechtsspezifische Jungenarbeit könne dazu beitragen, „daß die Jungen ihre Unsicherheit nicht als Täter ausagieren“. Sie beklagte, daß die finanziellen Mittel der Beratungs- und Therapiestellen immer mehr gekürzt werden: „Es ist heute Glückssache, ob ein mißhandeltes Mädchen eine Therapie bekommt.“ Vor allem im ländlichen Raum gebe es kaum Anlaufstellen für Opfer von sexualisierter Gewalt. Kinder und Jugendliche hätten kaum eine Chance, sich über ihre Rechte zu informieren. Auch die Ausbildung der Lehrer lasse zu wünschen übrig. In den Unterrichtsplänen für die Grundschule komme das Thema sexualisierte Gewalt nicht vor.

Frauke Homann von der Beratungsstelle „Wildwasser“ in Berlin fügte an: „Kinder gehen nicht allein zu einer Beratungsstelle. Sie eröffnen sich da, wo sie täglich sind: in der Schule.“ Lehrer müßten Verhaltensänderungen richtig deuten und ein offenes Ohr für ihre SchülerInnen haben. Es sei jedoch notwendig, daß die Lehrer auf „Hilfe von außen“ zurückgreifen könnten, wenn ihnen ein Kind erzähle, daß es mißbraucht worden sei. Nicht nur Lehrer und Jugendamtsmitarbeiter wüßten zuwenig Bescheid, auch die Kenntnisse und das Interesse von Ärzten lasse zu wünschen übrig. Häufig diagnostizierten sie Entzündungen im Genitalbereich von Kindern als Krankheiten und dächten nicht an die Möglichkeit, daß das Kind sexuell mißbraucht worden sei.

Auch der Einwurf einer Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft Köln paßte in diese Bild: Viele Richter und Staatsanwälte seien auf das Thema sexualisierte Gewalt schlecht vorbereitet. Kinder, die als Zeugen geladen seien, müßten manchmal stundenlang ohne pädagogische Betreung vor der Türe des Verhandlungssaals warten. Einige Richter redeten den Kindern ein schlechtes Gewissen ein, nach dem Motto: „Weißt du, daß dein Papa ins Gefängnis kommen kann.“ Ursula Enders schlug vor, daß bei der Vernehmung eines Kindes, das für die Produktion von Pornos mißbraucht wurde, keine Videokameras eingesetzt werden dürfen: „Das ist schließlich die Tatwaffe.“ Statt dessen sollte eine speziell ausgebildete Ermittlungsricherin Fragen stellen und dann während des Verfahrens anstelle des Kindes aussagen.

Die Diskussion war im vollem Gange, als sich ein Zuhörer zu Wort meldete: Er finde es „echt ätzend“, daß Expertinnen wie Enders und Homann seit Jahren auf Anhörungen immer wieder die gleichen Forderung stellten. „Solange sie, die Politiker, nicht mitmachen, geschieht nichts“, warf er den Veranstaltern von der SPD- Bundestagsfraktion vor. So gebe es nicht einmal eine zentrale Erfassungsstelle für sexualisierte Gewalt beim Bundeskriminalamt.