Vom Slacker zum Zombie

Und wenn er die Heimatkleinstadt nie verlassen hätte? Der Schauspieler Steve Buscemi, bekannt aus Filmen wie „Reservoir Dogs“ und „Fargo“, hat zum erstenmal Regie geführt: „Trees Lounge“ ist ein Was-wäre-wenn-Film  ■ Von Anke Westphal

Steve Buscemi fiel mir zum erstenmal 1992 auf, in Alexandre Rockwells Film „In the Soup“, wo er einen erfolglosen Drehbuchschreiber spielte, der sich von einem Gangster sponsern läßt. Was ist der häßlich, dachte ich damals fasziniert, und sah mir den Film zweimal hintereinander an. In „Trees Lounge“ setzt sich Buscemis krankes Losergesicht weich gegen die typisch amerikanische Kleinstadthorizontale ab. „Ich geb' dir fünf Dollar, wenn du den Drink nicht anrührst und abhaust“, sagt der Besitzer der Trees Lounge zu Tommy. Dann bietet er zehn Dollar. Tommy bleibt.

Die Erfahrung lehrt, daß das Überleben im Dschungel der Kleinstadt ähnlich hart ist wie das in der Großstadt – nur reicher an Prüfungen und Exotik. Das bescherte dem Kino im letzten Jahr einen Boom an Kleinstadtfilmen. Ein anderer Boom betrifft die enorme Zahl an Regiedebüts von Schauspielern. Al Pacino las mit Folgen Shakespeare („Looking For Richard“), Diane Keaton drehte einen wunderbar kristallinen Film über eine jüdische Kindheit in den Fünfzigern, Anjelica Houston ein Kindesmißbrauchsdrama („Bastard Out Of Carolina“), und Tom Hanks wollte swingen („That Thing You Do“). Daß sich die Ikone des amerikanischen Independent-Films, Steve Buscemi (der Mr. Pink aus Tarantinos „Reservoir Dogs“, zuletzt in „Living In Oblivion“, „Fargo“, „Kansas City“), auch in die Weiterbildung begab und erstmals Regie führte, scheint da nur konsequent.

Buscemis Kleinstadt heißt Valley Stream, ist tatsächlich Buscemis Heimatstadt und liegt auf Long Island. „Trees Lounge“ ist also auch eine Phantasie darüber, wie Steve Buscemis Leben hätte verlaufen können, wäre er nicht nach Manhattan gegangen und Schauspieler geworden.

Schlaffer Gang und Khakihemd

Die Trees Lounge von Valley Stream ist eine dunkle Taverne, in der wäßriges Bier verabreicht wird, die Platten in der Jukebox seit Jahren die gleichen sind, Vorstadtschönheiten mit schmierigen Kavalieren flirten und Bill, der Ex- Koreakämpfer, jeden Tag auf dem gleichen Stuhl sitzt, um sich zu betrinken. Die Trees Lounge ist das Zuhause von Tommy Basilio (Steve Buscemi). Warum das so ist, erzählt der Film nicht. Man weiß es einfach, wenn man Tommy, einen 31jährigen arbeitslosen Automechaniker, das erste Mal sieht.

Tommy ist ein alternder Kleinstadt-Slacker, der nicht wahrhaben will, daß ihm nicht mehr viel Zeit und Jugend bleibt, um zu entscheiden, was mit seinem Leben werden soll. Er hängt herum, von Tag zu Tag, und glaubt, daß es immer so weitergehen kann. Es ist eine Strategie, die auch hierzulande gepflegt wird: Die Rezession überleben und sich noch vormachen, daß man Spaß dabei hat.

Nicht, daß es funktioniert. Rob (Anthony LaPaglia) war mal Tommys Freund und ist der Besitzer der Garage, in der Tommy gearbeitet hat. Er hat Tommy die Freundin ausgespannt – Theresa hatte Tommys ewige Pubertät satt, ist aber vielleicht von ihm schwanger – und ihn entlassen, nachdem Tommy in Atlantic City 1.500 Dollar aus der Kasse verzockt hat. Tommy ist kein Antiheld, mit dem man Mitleid hätte. Gerade noch integriert, hat er immerhin seine Barkumpels und die Familie – Leute, die ihm auf die Nerven gehen, die er aber auch mag und vor allem braucht, denn sie kümmern sich um ihn. In einer Großstadt würde das anders aussehen.

„Trees Lounge“ zirkelt einen sehr kleinen sozialen Rahmen ab, der Vergleiche ausschließt. So liegen auch die Hemmnisse, die es Tommy nicht erlauben, seinem Leben Sinn zu verleihen, eher in ihm selbst. Daß Tommy in einer anderen Umgebung sozial vermutlich längst desintegriert wäre, wird durch das Valley-Stream-Setting weniger verschleiert als gemildert: Daß Tommy als sozialer Borderline-Fall ein Als-ob-Leben führt, ist ihm selbst und dem Zuschauer bewußt und Bestandteil der Krise. Tommy verliert Job auf Job; das Ausgewiesenwerden aus dem normalen Leben schränkt seine Fähigkeit dafür immer mehr ein – ein Teufelskreis.

Keiner könnte das besser spielen als Steve Buscemi. Sein Vorstadt-Tommy ist ganz schlaffer Gang, khakifarbenes Hemd, eine Rede von monotoner Nervosität, Basedow-Augen und aufgeworfene Lippen.

„Mit seinem starren Blick, den weit aufgerissenen Augen, seinem Grinsen einer Ratte, die den Käse gefressen hat, und einer hinterhältigen Umtriebigkeit ist Steve Buscemi die elektrisierende Figur des amerikanischen Independent-Kinos, ein aufgeputschter Downtown-Häßling, dessen Gefühle geradewegs aus seiner vampirblassen Haut herauszubluten scheinen.“ Worte aus Entertainment Weekly, denen nichts, aber auch nichts hinzuzufügen ist.

Buscemi hat „Trees Lounge“ geschrieben, er hat Regie geführt und spielt die Hauptrolle – ein riskantes und dennoch gelungenes Universalunternehmen. Die moderaten Kamerafahrten eines Edward Burns („Kleine Sünden unter Brüdern“, „She's the One“), der immerhin auch als Herr der Vorgärten Long Islands reüssierte, kommen in „Trees Lounge“ ebensowenig vor wie Hal Hartleys („Simple Man“, „Amateur“) mondsüchtige Spaziergänge über Straßen und Strände. Doch wie Edward Burns – auch ein Debütant im Fach Regie – schrieb Buscemi sein Drehbuch vom eigenen Leben ab, und wie Burns hält er das Eigene nicht etwa für das Fremde: Buscemi ist Tommy, ohne Distanz.

Tommys Als-ob-Leben nähert sich der Katastrophe, als er den Eiswagen seines Onkels Al erbt und damit die Chance erhält, sich wieder eine Existenz aufzubauen. Der Eis-Onkel war ein freundlicher und bei Kindern wie Müttern sehr beliebter Mann, doch eines Tages: Wieder einmal steht ein kleiner Junge auf dem Rasen und winkt ihm mit einem Dollarschein, das Eisauto rollt und rollt auf ihn zu – im letzten Moment kann er zur Seite springen. Der Eismann im fahrenden Auto ist tot, in Ausübung seines Dienstes einem Herzinfarkt erlegen – eine der vielen grotesken Szenen von „Trees Lounge“.

Als Eisverkäufer schon überfordert

Tommy kann sich den geringen Anforderungen des Eisverkäuferjobs schon nicht mehr anpassen. Er verstört die Kinder, brüskiert die Mütter, doch da kommt die 17jährige Debbie (Chloe Sevigny aus Larry Clarks Film „Kids“, das neue Idol des Retro-Modehauses Prada), eine Teenagergöttin aus der Maschine.

Debbie hilft Tommy beim Eisverkaufen, aber sie kann ihn nicht erlösen. In Debbies Person transformiert sich Pubertät in Erwachsensein, ein Übergang, den Tommy nicht vollziehen will, vielleicht auch nicht mehr kann. Debbie gelingt am Ende des Films, was Tommy wohl nie gelingen wird: Sie verläßt die Kleinstadt.

„Trees Lounge“ malt einen Hopper-Zustand. Es passiert nicht viel und verschlägt doch den Atem. Denn im Hintergrund steht immer die Frage, ob Tommy es wieder einmal gerade noch so schafft – with a little help from my friend –, sein kleines Leben zu leben, oder ob er endgültig abstürzen wird. „Trees Lounge“ ist ein Proletarier- Underdog-Film und doch anders als die Filme des neuen britischen Kinos. Ihm fehlt die rauhe, verzweifelte Vitalität eines Ken Loach oder Mike Leigh. Es gibt keinen Witz mehr, nur noch Groteske – die Vorstufe zum Horror. Die Leute in Valley Stream sind nicht eigentlich arm oder aber von penibler Ordentlichkeit – wer will das schon genau unterscheiden? Das Milieu wirkt weder schlimm noch deprimierend, noch wird es heroisch kompensiert. Tommy ist einfach in der Sonne erfroren, er unternimmt keine Anstrengungen mehr – eine gruselige Vorstellung.

Wenn Bill am Ende stirbt und Tommy seinen Platz in der Trees Lounge einnimmt, hat er sich längst in einen Zombie verwandelt.

„Trees Lounge“. Regie und Drehbuch: Steve Buscemi. Kamera: Lisa Rinzler. Mit Steve Buscemi, Chloe Sevigny, Michael Buscemi, Lucian Buscemi, Mimi Rogers, Samuel L. Jackson, Mark Boone, Danny Baldwin u.a. USA 1996, 95 Min.

„Du gehst morgens nicht zur Arbeit. Du gehst morgens in die Bar.“

Aus „Trees Lounge“