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Peru auf dem Weg zur Normalisierung

Nach Jahren des Terrors durch die Guerilla des Leuchtenden Pfades beginnt der Wiederaufbau der sozialen Organisationen – den Anstoß gab der Mord an einer Frauenrechtlerin  ■ Aus Villa El Salvador Ingo Malcher

Der Friedhof im Wüstensand fällt kaum auf. Einige zusammengenagelte Holzkreuze stecken in dem gelben Sand, die Gräber sind mit Steinen voneinander getrennt. Von dem Hügel hat man eine schöne Aussicht auf die Stadt Villa El Salvador. Die Häuser im Tal wirken von hier oben wie Bauklötze. Nur wenige Gräber auf dem Friedhof sind aus Steinen gemauert. Bei einem von ihnen paßt der graue Grabstein nicht zu dem weißen Gemäuer. Er ist provisorisch draufgestellt, eine Ecke fehlt. Es ist das Grab von Maria Elena Moyano. Nur eine Woche nach ihrer Beerdigung wurde das Grab gesprengt – allein der Grabstein blieb übrig.

Die Bewohner von Villa El Salvador, einer Stadt vor den Toren der peruanischen Hauptstadt Lima, haben das Grab danach wiederaufgebaut. Maria Elena Moyano wurde am 15. Februar 1992 von der maoistischen Terrororganisation Leuchtender Pfad bestialisch ermordet. Zuerst durchlöcherten mehrere Gewehrkugeln ihren Körper. Dann sprengten ihre Mörder den Leichnam vor den Augen ihres Sohns mit Dynamit. Von ihr blieb kaum noch etwas übrig. Maria Elena Moyano hatte gegen den Einfluß des Leuchtenden Pfades in Villa El Salvador gekämpft und die Unterwanderung der sozialen Organisationen durch Mitglieder der Guerilla öffentlich gemacht.

Sie wußte, nachdem sie mehrere Drohungen erhalten hatte, daß sie auf der Todesliste der Maoisten stand. Sie wechselte ihren Aufenthaltsort, lebte in den Häusern von Freunden und bat verschiedene Organisationen um Schutz. Am Tag ihrer Ermordung war sie mit einem Fuß schon so gut wie im Flugzeug nach Spanien. Die spanische Botschaft hatte ihr Ticket bereits ausgestellt. Zu ihrem Schutz war an jenem 15. Februar nur ein leichtbewaffneter Polizist abgestellt.

Noch am Tag zuvor ging Maria Elena mit weißen Fahnen gegen einen bewaffnten Streik des Leuchtenden Pfades in Villa El Salvador auf die Straße. Es folgten ihr kaum mehr als eine Handvoll Leute – die Angst vor Racheakten war zu groß. Bewaffnete Streiks sind eine Einschüchterungstaktik der Maoisten mit einer einfachen Logik: Wer dem Streikaufruf der Sekte nicht folgt, wird erschossen.

„Maria Elena war eine außergewöhnliche Frau“, meint der Bürgermeister von Villa El Salvador, Miguel Azcueta, den alle nur Michel nennen. Auf seinem Schreibtisch steht die Bronzefigur einer Frau, die eine große Fahne schwenkt. Es ist Maria Elena Moyano. Azcueta nimmt die Figur in die rechte Hand und betrachtet sie lange. Mit der linken Hand fährt er unter seine Brille und reibt sich das Auge.

Michel Azcueta kam 1971 als Lehrer nach Villa El Salvador. „Wir kamen nach der Universität bewußt hierher, wir wollten gemeinsam mit den Leuten leben und pädagogische Erfahrungen sammeln“, schildert er seinen Idealismus. Azcueta hat sich in das Stadtleben eingeklinkt und ist 1984 zum ersten Mal als Bürgermeister gewählt worden. Der Boden in seinem Bürgermeisterzimmer besteht aus nacktem Zement. Zwei Neonröhren hängen an braunen Holzbalken unter der Decke.

Azcueta hat zwei Attentate des Leuchtenden Pfades überlebt. „In meinem Haus sind zwei Bomben explodiert“, erzählt er mit schwerer Stimme. Das zweite Attentat ereignete sich vor einer Schule in Villa El Salvador. Als Azcueta gerade zur Türe des Schulgebäudes hineingehen wollte, feuerten zwei Mitglieder des Leuchtenden Pfads mehrere Maschinengewehrsalven auf ihn ab. Die beiden Attentäter hatten die Waffen in einem Gemüsekarren versteckt. Seit diesem Attentat ist eines seiner Beine dauerhaft geschädigt.

Dennoch kam es ihm nie in den Sinn, Villa El Salvador zu verlassen. Als Lehrer mit einer Universitätsausbildung müßte er nicht in einer armen Stadt leben, in der nur einmal pro Woche Wasser aus den Wasserhähnen fließt. Und es gäbe auch Orte, an denen er sicherer wäre. Aber, „jeder hat seinen Ort, wo er hingehört“, sagt er und zuckt mit den Schultern. An einer der Häuserwände der Stadt ist noch eine Parole aus dem vergangenen Wahlkampf zu lesen: „Vorwärts, Michel!“ Daneben ist mit roter Farbe ein großes Herz gemalt.

Villa El Salvador ist eine junge Stadt. 1971, als die ersten BewohnerInnen in dem heutigen Stadtgebiet ankamen, gab es dort nur Wüste. Auch heute gibt es nur wenige geteerte Straßen in der 340.000 Einwohner zählenden Stadt. Die Häuser sind selten höher als zwei Stockwerke. Auf den Straßen fahren viele Mofa-Rikschas herum. Auf dem Sandstreifen neben einer der Hauptstraßen werden gebrauchte Kühlschränke verkauft. Am Straßenrand stehen Händler, die Früchte und Gemüse anbieten oder Fleischspieße grillen.

„Die Stärke von Villa El Salvador ist, daß es hier eine Zivilgesellschaft gibt“, meint Azcueta. Ihre Gründer haben die Stadt quadratisch angeordnet. Ein Stadtteil (Barrio) umfaßt 24 Häuser, die sich schuhkartonförmig um einen Platz gruppieren. Nach diesem Modell breitet sich die ganze Stadt aus. Die Häuser gehören den BewohnerInnen selbst. Sie haben sie meist in Eigenarbeit mit Hilfe von Bekannten und Verwandten zusammengezimmert. In jedem Barrio wählen die Bewohner fünf Vertreter, die sich um die Probleme des Stadtteils kümmern und den Kontakt zu der Stadtverwaltung halten. Doch nach den Jahren des Terrors des Leuchtenden Pfads haben immer noch viele Menschen Angst, sich zum Stadtteilvertreter wählen zu lassen. Vor drei Jahren war es „noch schlimmer, da wollte sich überhaupt niemand wählen lassen. Diese Situation fängt gerade an sich zu ändern“, berichtet Azcueta. „Die Leute brauchen Selbstbewußtsein“, meint der 49jährige. Bei dem geplanten Angriff des Leuchtenden Pfades auf Lima war Villa El Salvador das erste Angriffsziel. Dort ging auch die erste Autobombe der Maoisten in Peru hoch.

In einer kleinen unverputzen Garage hat Rafael Arango seine Eisenwarenhandlung. Er stellt Fenstergitter und Türbeschläge in Eigenarbeit her. Der 38jährige ist „Generalsekretär der 14. Residentengruppe des 3. Sektors“. Auf die genaue Bezeichnung seines Amtes legt er Wert. „Wichtig bei meiner Funktion ist es, die soziale Hilfe aufrechtzuerhalten, damit die Wasser- und Gesundheitsversorgung klappt“, sieht er seine Aufgabe. Denn in Villa El Salvador gibt es kein Krankenhaus, weil das Geld dafür fehlt. „Wir helfen irgendwie“, meint Arango über sich und die anderen Delegierten. Immer wieder kommen Kinder in seine Garage, um ihre Fahrräder mit seinem elektrischen Kompressor aufzupumpen. Auch bei größeren Problemen ist Arango zuständig. „Wenn zum Beispiel ein Mann seine Frau schlägt, spreche ich mit ihm. Wenn das nichts hilft, begleite ich die Frau zur Polizei.“

Bevor Arango nach Villa El Salvador kam, wohnte er in Victoria, einem Stadtteil von Lima. Als dort das neue Stadion des Fußballclubs Alianza Lima gebaut wurde, mußten die Bewohner des Viertels weichen. Ihnen wurde angeboten, nach Villa El Salvador zu ziehen. Doch da dort nur Wüste war, wollte niemand freiwillig gehen. Schließlich machte der damalige Präsident, der Populist General Juan Velasco, „uns das Angebot, daß wir zusätzlich ein Holzhaus bekommen sollten“. Arango willigte ein. Als er dann Jahre später seine Arbeit in Lima verlor, machte er sich in seiner kleinen Garage in Villa El Salvador selbständig. „Die Nachbarn haben mir beim Aufbau des Ganzen sehr geholfen“, erinnert er sich.

In Villa El Salvador versucht der Bürgermeister Michel Azcueta kleine und mittlere Betriebe zu fördern. In der Stadt haben sich etwa tausend Kleinbetriebe angesiedelt. Auch ein eigenes Industriegebiet gibt es. Auf dem Weg dorthin stinkt es nach Müll. Nur zwei Müllwagen stehen der Stadt für knapp 200 Tonnen Müll pro Tag zur Verfügung, weshalb der Müll neben der Straße abgekippt oder verbrannt wird. In dem Industriepark wird vom Ledergeldbeutel bis zum Sofa alles produziert. Aus Kleinunternehmen sind kleine Fabriken geworden. Dadurch wuchsen auch die Einkommensunterschiede in der Stadt. Michel Azcueta glaubt dennoch, daß sein „Modell der kommunalen Entwicklung einen neuen Weg darstellt. Das, was wir machen, ist eine Alternative zum Neoliberalismus und dem Leuchtenden Pfad.“ In Villa El Salvador gehen nach Angaben von Azcueta alle Kinder zur Schule, immerhin 85.000. „Wir haben ein hohes Schulniveau, und es gibt kaum Analphabetismus“, freut sich Azcueta.

Die Stadt hat auch einen eigenen Radio- und Fernsehsender. Das Kommunikationszentrum entstand auf Initiative des Bürgermeisters. Beim Radio sollen alle mitmachen dürfen, die sich berufen fühlen. In den engen Studioräumen sind fast nur musikbegeisterte Jugendliche zu finden. Michel Azcueta ist stolz darauf, was aus Villa El Salvador geworden ist. „Als wir hierherkamen, da gab es hier nichts, überhaupt nichts, nur Wüste. Das hier war der letzte Ort von Lima.“ Und als er das erstemal zum Bürgermeister gewählt wurde, drückten ihm die Behörden von Lima zwei Dinge in die Hand: das Gesetzbuch und ein Papier, auf dem stand, daß er Bürgermeister sei. Ein Haus für die Stadtverwaltung gab es nicht, „noch nicht mal einen Stuhl habe ich bekommen“.

Nach der Zeit des Terrors beginnen sich die sozialen Organisationen langsam neu aufzubauen. Die Stärke von Elena Maria Moyano war es, zu organisieren. Sie stellte ihr Privatleben zurück, um die Frauen auf die Straße zu bringen. 1982 gründete sie in Villa El Salvador die Federación Popular de Mujeres, die erste Frauenorganisation der Stadt. Auch in Lima war sie als Vorsitzende der zusammengeschlossenen Frauenorganisationen aktiv. Sie organisierte Volksküchen, kämpfte für die Rechte der Frauen. „Der Mord an Elena Maria war der Anfang vom Ende vom Leuchtenden Pfad“, glaubt Michel Azcueta. Zu ihrem Trauerzug kamen 10.000 Menschen. Sie riefen: „Elena Maria ist nicht gestorben, sie lebt in ihrem Volk.“

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