Ehrendoktor für eine Obsession

■ Der Eisenbahner Hermann Süß bekam an der Uni Erlangen den Ehrendoktortitel für seine Studien zur jiddischen Sprache

Erlangen (taz) – Wo Doktortitel sind, da fliegen Doktortitel zu. So ist das oft bei der Verleihung von Ehrendoktoren. Der Dr. h.c.mult. ist in Chefetagen von Big Science, Politik und Wirtschaft heimisch. Profis ehren Profis. Die beiden Philosophischen Fakultäten der Universität Erlangen sind jetzt bei ihrer Promotionsfeier am 24. Januar ungewöhnlich anders verfahren. Sie ernannten einen unstudierten Eisenbahner zum Ehrendoktor, denn er hatte sich in seiner Freizeit zum internationalen Experten für das Jiddische gemacht.

Seine Vorgeschichte: Als im Jahr 1943 der Film „Jud Süß“ in Nürnberg anlief, fürchtete der zehnjährige Hermann Süß, er werde in seiner Pimpfengruppe gehänselt. Er wurde es nicht. Vielleicht wußten die Nürnberger, daß Süß kein Judenname war. Gewiß wußten sie aber, daß der kleine Hermann ein typischer Nürnberger war. „Eine eigenwillige Schülerpersönlichkeit“ bescheinigte ihm 1953 das Abiturzeugnis.

Er studierte auf Volksschullehrer, litt im Referendariat unter dem Schulamt, quittierte den Schuldienst, arbeitete im Nachschub der US-Armee, wechselte im Jahr 1973, 41jährig, zur Bundesbahn und wurde Schaffner. Er wollte herumkommen.

Was trieb ihn um? Die Suche nach jiddischen Büchern. Warum jiddische? War vielleicht doch jener alte Film ein unterschwelliger Antrieb? Hermann Süß sieht das nicht so. Es sei einfach Neugier gewesen und eine Faszination: hinter den fremden hebräischen Schriftzeichen ein halbwegs vertrautes Deutsch anzutreffen, das oft der fränkischen Mundart nahe war. Aus der Neugier machte Süß, was die Spaßgesellschaft Hobby nennt. Er selbst nennt es eine Obsession.

Die Eisenbahn bringt ihn im Land herum. Er versucht die Fahrtrouten so zu legen, daß an den Aufenthalts- und Wendepunkten Bibliotheksrecherchen möglich werden. Am besten klappt es zunächst in Lindau am Bodensee. Sackbahnhof mit zwei Stunden Aufenthalt. In der Bibliothek findet er hebräische Drucke, unkatalogisierte, von denen die Bibliotheksleitung selbst nichts wußte.

So etwas schafft er auch andernorts. Sein großer Durchbruch gelingt jedoch in Erlangen. Hier findet Süß die große Sammlung alter jiddischer Drucke des Altdorfer Hebraisten Wagenseil (1653 bis 1705), die nie katalogisiert worden war und längst als verschollen galt. Auf der Internationalen Konferenz für Jiddisch 1979 in Oxford wird er mit seinem Fundbericht zum Star.

Er kann fortan in guten Zeitschriften publizieren und wird als Fachmann geachtet, obwohl er oder vielleicht gerade weil er Eisenbahner bleibt, ohne Salär Bibliotheksbestände identifiziert, katalogisiert, Ausstellungen konzipieren hilft, dabei indes keine Ansprüche an die etablierte Wissenschaft stellt und ihre knappen Ressourcen unangetastet läßt. Das Geld für die Fachbücher verdient er sich noch als Nachtportier im Münchner Hotel Dachs.

Bei der Titelverleihung dankt er vom Podium herunter Frau und Söhnen für ihr langjähriges Verständnis. Oft sei es allerdings ein „aufgezwungenes Verständnis“ gewesen, vermerkt er ohne Sarkasmus. Auch den Kollegen von der Bundesbahn dankt er. Sie haben ihm studieren helfen, indem sie den Dienstplan solidarisch auf seine Reisebedürfnisse, Tagungstermine und Sachinteressen zuschnitten.

Die Arbeit des Hermann Süß sagt viel über das Können und Geschick des Außenseiters. Sie sagt freilich auch einiges über das Nischendasein, das das Jiddische bis heute fristen muß. Mit Jiddischstudien kann man sein Leben nicht finanzieren. Die Philologen haben das immer gewußt und deshalb gar nicht erst angefangen. Nur die Uni Trier kann einen wirklichen Jiddisch-Schwerpunkt vorweisen.

Irgendwie verständlich, aber peinlich ist es eigentlich doch: Daß es Jahrzehnte nach dem Ende des Holocaust einem fachfremden Einzelkämpfer überlassen bleibt, unkatalogisierte jiddische Buchbestände aufzuspüren und der Fachwelt zugänglich zu machen. Indiz für ein Desinteresse, das leicht als ein gedankenlos fortgeschlepptes Erbe der Judenverachtung verstanden werden könnte.

Das Erlanger Ehrendoktorat hat dementgegen ein gutes Signal gesetzt. Gratulationsschreiben aus Oxford und Rostock haben es bekräftigt. Hermann Süß kam übrigens mit der Tücke des Saalmikrophons weit besser zurecht als seine akademischen Vorredner; wahrscheinlich war er von den krächzenden Zuglautsprechern her Schlimmeres gewöhnt. Anita und Hartmut Kugler