Verstellungen

■ "Männerliebe und Literatur": ein arte-Themenabend durcheilt leider nur den klassischen Kanon (ab 21.45 Uhr, arte)

Der Titel verheißt enzyklopädische Breite, die dieser dreiteilige Themenabend natürlich nicht erfüllen kann. Wenn hier von Homosexualität und Literatur die Rede ist, dann ist damit nicht die ungeheure Flut der inzwischen vorliegenden anglo-amerikanischen „gay lit“ gemeint und ebensowenig die Entwicklung selbstbewußt schwuler Literatur, wie sie parallel zur homosexuellen Emanzipation seit den 70er Jahren auch in Europa entstanden ist.

Michael Gleich und Holger Preuße durchforsten in ihrem 60-Minuten-Feature „Es ist ein großes Geschrei über Sodom“ die europäische Kulturgeschichte nach den anerkannten homosexuellen Außenseitern und durcheilen dabei den inzwischen klassischen Kanon: vom Shakespeare-Zeitgenossen Christopher Marlowe zum Dandy und Provokateur Oscar Wilde, von Thomas Mann, Arthur Rimbaud und Paul Verlaine zu Hans Christian Andersen und seiner Märchenwelt.

Das bekannte Dokumentarfilmproblem abgefilmter Text- und Bilddokumente umgehen die Autoren, indem sie einen Schauspieler in die verschiedenen Schriftstellerrollen schlüpfen lassen. Dies ermöglicht ihnen auch, längere Zitate aus Originaltexten zu unterlegen. Schauplätze sind immer wieder das Gefängnis, mal Oscar Wilde in der Strafanstalt Rading oder Jean Genets erotische Knast- Phantasien. Wer seine Homosexualität öffentlich bekannte, mußte mit Bestrafung rechnen. Mit Haft wie Wilde oder mit Tod wie Marlowes König Edward II., dem eine glühende Eisenstange in den Hintern gerammt wurde.

Was blieb, war oft nur die Flucht in die Ferne, wo die Erfüllung homosexueller Wünsche zumindest käuflich zu arrangieren war. André Gide findet, wie viele andere auch, bei den Strichjungen in Nordafrika sein erkauftes Glück. Oder aber man zog sich hinter Masken zurück, versteckte die eigenen sexuellen Begierden in literarischen Vexierspielen und Verstellungen. Andersens Märchen von Außenseitern wie dem häßlichen Entlein oder der verstümmelten Seejungfrau sind Paradebeispiele für dieses Wechselspiel von Maske und Signal. Ein Verstecken und Verstellen vor der Gesellschaft und zugleich Aussenden von Andeutungen und Motiven, in denen sich Gleichgesinnte und -empfindende wiedererkennen.

Den gewissermaßen literaturwissenschaftlichen Segen erfährt diese in weiten Strecken kompakte und durchaus informative Reise durch die Literatur Homosexueller durch den Essayisten Fritz J. Raddatz, der, gewohnt selbstverliebt, selbst noch das Rauchen vor der Kamera zelebriert und unnötig geschnörkelt über die Tiefenanalyse des Verhältnisses von literarischer Produktion und verschleierter oder offen ausgelebter Homosexualität doziert. „Der Homosexuelle ist immer ein anderer“, selbst wenn er von der Gesellschaft und den Gesetzen weithin akzeptiert sei. Diese Sentenz genügt Raddatz, um damit die gesamte schwule Literatur nach Gide und Genet unisono einzuordnen und abzuhaken.

Eine Auseinandersetzung mit der selbstbewußten modernen Literatur für und von Schwulen, inklusive ihrer eigenen Gesetzmäßigkeiten, Topoi und Marktzwänge, wäre – zugegeben – bereits ein neuer Film. Den einzigen Ausblick auf diese Literatur bietet die einfühlsame Verfilmung von David Leavitts Roman „Die verlorene Sprache der Kräne“, den Nigel Finch 1992 für die BBC drehte. Er hielt sich, trotz der Verlegung des Schauplatzes von New York nach London, recht getreu an die Bestsellervorlage. Axel Schock