Wie gleich sind Sterbende?

Die „mutmaßliche Einwilligung“ von Ärzten und Verwandten reicht bei der Entscheidung zur aktiven Sterbehilfe nicht aus: Der Oberste Gerichtshof der USA verhandelt, ob das Verbot von „Euthanasie“ verfassungswidrig ist  ■ Von Oliver Tolmein

Die Kommentatorinnen und Beobachter in den großen US-Medien sind sich einig: Seit der Entscheidung Roe vs. Wade, mit der der Oberste Bundesgerichtshof in den USA 1973 die Abtreibung legalisiert hat, gab es kein so folgenreiches Verfahren mehr wie das gerade vor dem höchsten US-amerikanischen Gericht geführte über den „physican-assisted suicide“, die Selbsttötung mit ärztlicher Unterstützung.

Die Bundesstaaten New York und Washington haben den Obersten Gerichtshof angerufen, weil im letzten Jahr Appellationsgerichte ihr gesetzliches Verbot jeder „Tötung auf Verlangen“ auf Antrag von Pro-Sterbehilfe-Gruppen für verfassungswidrig erklärt haben. Während bei der ersten Anhörung des Obersten Gerichtshofes Anfang Januar nur 50 Menschen im Verhandlungssaal Platz gefunden haben, saßen und standen draußen vor den Hallen der Justiz Hunderte mit Transparenten und Fahnen und lieferten sich erbitterte Rededuelle. Auf der einen Seite argumentieren die „Right to die“-Aktivisten und fordern ihr Selbstbestimmungsrecht über die Art zu sterben ein, auf der anderen engagieren sich, neben den christlich-fundamentalistischen „Pro-Life“-Gruppen, vor allem Behinderte, die sich durch die Sterbehilfekampagne in ihrem Lebensrecht bedroht sehen.

Ihr neues, überaus agiles Bündnis, „Not Dead Yet“, ruft bei den „Right to Die“-Befürwortern schärfere Aggressionen hervor, als die Aktivitäten der anderen Sterbehilfegegner, weil es das in den letzten Jahren in den USA noch festgefügte Raster, hier religiöse Fundamentalisten, da aufgeklärte Bürgerrechtler, sprengt: Schließlich ist der Kampf US-amerikanischer Behinderter gegen jede Form von Diskriminierung, der im „American with disabilities“-Act seinen gesetzlichen Niederschlag gefunden hat, selbst eine Auseinandersetzung um Bürgerrechte, die auf viel Sympathie stößt. Und unter Verweis auf diese Anti-Diskriminierungs-Vorschriften hat eine Gruppe von Behinderten, Krebskranken und Aids-Patienten 1994 Klage gegen das erste US- amerikanische Gesetz über Tötung durch den Arzt, das im US- Bundesstaat Oregon 1994 in einer Volksabstimmung mit knapper Mehrheit beschlossen wurde (die sogenannte Maßnahme 16) erhoben – und vor dem erstinstanzlichen Bundesgericht Recht bekommen.

Anders als in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch als in den Niederlanden, spielen Strafverfahren in der Auseinandersetzung um die Möglichkeiten, sich vom Arzt töten zu lassen beziehungsweise eine tödlich wirkende Behandlung beanspruchen zu können, in den USA nur eine marginale Rolle: Zwar haben Staatsanwälte mehrfach versucht, das Idol der US-amerikanischen Sterbehilfebewegung, den Pathologen Jack Kevorkian anzuklagen, der in den letzten Jahren den Tod von 45 Menschen mit Hilfe selbstkonstruierter Tötungsmaschinen unterstützt hat. Sie sind dabei aber stets erfolglos geblieben.

Folgenreicher als die meist schon im Frühstadium gescheiterten Strafverfahren waren die verfassungsrechtlichen Entscheidungen: 1976 urteilten Richter des Obersten Gerichtshofes von New Jersey, daß die Eltern der seit Jahren im Koma lebenden Karen Ann Quinlan ein Recht darauf hatten, daß das Krankenhaus die künstliche Beatmung ihrer Tochter abschaltet. Sie begründeten das mit dem „right of privacy“, das hier stärker zu gewichten sei, als die Pflicht des Staates, Leben zu schützen und zu erhalten. 1990 bestätigte der Oberste US-Gerichtshof die im Quinlan- Verfahren entwickelten Prinzipien, verfügte allerdings dennoch mit der knappen Mehrheit von fünf gegen vier Stimmen, daß die bewußtlose Nancy Gruzan weiter behandelt und ernährt werden sollte: Die Verfassung sichere zwar jedem Menschen das Recht darauf zu, jede noch so lebenswichtige Behandlung abzulehnen. Die Richter sahen diese Entscheidung aber als höchstpersönliche Angelegenheit, die keine Dritten, auch die engsten Angehörigen nicht, stellvertretend treffen könnten. Es müßten klare und eindeutige Beweise vorliegen, daß die Betroffene selbst in dieser Lage nicht mehr behandelt werden wollte. Eine bloß „mutmaßliche Einwilligung“, wie sie zum Beispiel der deutsche Bundesgerichtshof in einem Strafverfahren gegen einen Arzt und den Sohn einer Frau im Koma als ausreichend für einen Entzug von künstlicher Ernährung ansieht, reicht demnach in den USA für eine Tötung durch Behandlungsabbruch nicht aus.

Im gegenwärtigen Verfahren und in den Auseinandersetzungen um das Oregoner „Euthanasie“- Gesetz liegen die Dinge aber in zweifacher Hinsicht anders: Zum einen geht es jeweils nicht um den Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung, sondern darum, daß der Arzt aktiv wird und tödlich wirkende Medikamente verschreibt und ihre Verabreichung unterstützt; zum anderen sehen die umstrittenen „Tötung auf Verlangen“-Vorschläge aber vor, daß die sterbewilligen Patienten bei vollem Bewußtsein sein müssen. Der Richter des Bundesgerichts in Oregon, der das dort verabschiedete „Euthanasie“-Gesetz dennoch als verfassungswidrig zurückwies, führte als Argument den Gleichbehandlungsgrundsatz aus der amerikanischen Verfassung ins Feld: Wenn der Staat das Leben aller Menschen schütze, nur das von sterbewilligen Kranken nicht mehr, dann stelle das eine ungerechtfertigte Sonderbehandlung dar, die fatale Folgen haben könne. Menschen könnten unter Druck gesetzt werden, sich töten zu lassen, statt eine kostspielige Behandlung durchzuführen. Außerdem würde jede Freigabe der „Tötung auf Verlangen“ für eine bestimmte Gruppe dazu führen, daß neue Kandidaten für legalisierte Sterbehilfe in die Diskussion gebracht würden.

Die Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgrundsatzes führte das Appellationsgericht allerdings zu einer anderen Schlußfolgerung: Das Verbot der „Tötung auf Verlangen“ durch einen Arzt stellte sich ihnen als Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz dar, denn „die, die im letzten Stadium ihres Lebens auf lebenserhaltende Maschinen angewiesen sind, dürfen ihren Tod nach ständiger Rechtsprechung beschleunigen, weil sie die Anweisung geben können, die Maschinen abzustellen. Aber die, die in einer ähnlichen Situation sind, die aber ohne künstliche Ernährung und Beatmung leben können, dürfen ihren Tod nicht beschleunigen, indem sie ärztlich verschriebene, tödlich wirkende Medikamente nehmen.“

Die Überlegungen zur Rolle des Gleichbehandlungsgrundsatzes haben auch in der Anhörung des Obersten US-Gerichtshofes eine zentrale Rolle gespielt. Antonin Scalia, der im Verfahren Cruzan eine abweichende Meinung vertreten und sich für Abbruch der lebenserhaltenden Behandlung ausgesprochen hatte, wollte beispielsweise von der Vertreterin der Ärzte, die sich in den Ausgangsverfahren in Washington und New York für die Freigabe der Tötung auf Verlangen ausgesprochen hatten, wissen: „Warum soll nur jemand die Verschreibung tödlich wirkender Medikamente oder Spritzen durch den Arzt verlangen dürfen, der körperliche Schmerzen hat, wenn er kompetent, überlegt und aus freien Stücken handelt? Warum nicht jemand, der aus welchem Grund auch immer enorme emotionale Probleme hat und deswegen unglücklich ist. Dürfte der Ihrer Meinung nach auch verlangen, getötet zu werden? Nein? Aber das heißt, daß der Staat die Entscheidung treffen muß, daß es schlimmer ist, körperliche Schmerzen zu haben als zutiefst unglücklich zu sein und das nicht mehr auszuhalten.“

Der US-Supreme-Court wird noch in dieser Sitzungsperiode, die im Juli zu Ende geht, ein Urteil fällen. Die Fragen und kurzen Stellungnahmen der überwiegend konservativen Richter lassen vermuten, daß sie dem Anliegen der „physican-assisted suicide“-Befürworter eine vorsichtige Abfuhr erteilen werden. Die Clinton-Administration hat noch im letzten Jahr eine Legalisierung jeder Form von „Tötung auf Verlangen“ strikt abgelehnt.

Auf jeden Fall wird das US- amerikanische Urteil Signalwirkung für die Rechtsprechung in den westlichen Industriestaaten haben: Die Verfassungsprinzipien, die in den USA zur Diskussion stehen, gelten auch in der Alten Welt.