■ Die Lebenserwartung sinkt
: Schlechte Ernährung

Keiner muß vor Hunger sterben. Zwar leben in Europa schätzungsweise 20 bis 25 Millionen Menschen unter dem Existenzminimum. Doch da eben kein Massensterben durch Hungern bekannt ist, glauben wir diesen Zahlen im Grunde nicht. Wenn so viele Menschen unter dem Existenzminimum leben können, muß entweder die Berechnung des Existenzminimums falsch sein oder die Statistiken in den einzelnen Ländern.

Natürlich kann man die Parameter anfechten. Zum Existenzminimum wird zum Beispiel auch die Grundversorgung mit Informationen gerechnet, wozu auch mindestens ein Radio oder der Kauf einer Zeitung gehört. Ebenfalls werden jährlich ein paar neue Winter- und ein paar neue Sommerschuhe eingerechnet, während man mit alten Latschen auch weiterkommt oder sie billig richten lassen kann, wenn die Sohle durch ist.

Das stimmt. Doch im Grunde ist die reale Armut nicht kleiner, als es die Statistiken zeigen. Denn wir machen uns noch immer vor, Armut ließe sich daran messen, wieviel Waren die Leute kaufen können. Tatsächlich aber gibt es neben der wirtschaftlichen auch die funktionale Armut, und die ist weit gefährlicher. Anders als die rein ökonomische Armut, die daran erkennbar ist, daß der Betreffende keine Mittel mehr hat, sich Lebensmittel und Kleidung zu kaufen oder die Miete zu bezahlen, bleibt die funktionale Armut lange unerkannt, bis sie mit ganzer Macht ihre Folgen zeigt. Im vorigen Jahrhundert wurde auch viel über Armut geredet, und man glaubte, eine Abnahme der jährlich vor allem im Winter sterbenden Menschen sei schon so etwas wie ein Sieg über die Armut. Erst Militärärzte brachten heraus, daß es nun zwar immer mehr „durchgekommene“ junge Männer gäbe, die aber immer schlechter ernährt wären. Das war der eigentliche Grund für die Sozialgesetzgebung, die in vielen europäischen Ländern damals eingeführt wurde.

Heute geht unsere europäische Gesellschaft den umgekehrten Weg. Sie glaubt, den Menschen immer noch mehr Einsparungen zumuten zu können, und merkt nicht, daß sie bereits schweren Schaden anrichtet: Wer kein Geld hat, geht nicht zum Arzt, er kauft minderwertige Nahrungsmittel. Viele ertränken ihr Unglück in Alkohol. Weil sie nicht mehr lesen, sind sie über die Gefahren nicht informiert. Sie alle sind noch nicht am Verhungern, doch erstmals sinkt in Europa wieder die Lebenserwartung. Doch niemand führt dies etwa auf die funktionale Armut zurück. Im Gegenteil: Rentenpolitiker äußern sogar hinter vorgehaltener Hand Erleichterung, weil Alte und Kranke der Gsellschaft nicht mehr so lange zur Last fallen. Sie selbst können sich gesunde Nahrung ja leisten. Bernardo Mestrinaro

Der Autor arbeitet als Ernährungswissenschaftler in Rom.